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Das Karpatenschloß

Das Karpatenschloß

Titel: Das Karpatenschloß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Spiel – mithilfe der Kette hinaufzuklim-
    men.
    Als sich der Doktor aber allein sah, schien er sich der
    augenblicklichen Sachlage doch wieder einigermaßen be-
    wußt werden. Er fing an zu begreifen, blickte nach allen Sei-
    ten herum, sah seinen Gefährten schon 10 bis 12 Fuß über
    dem Erdboden schweben und schrie mit einer von der aus-
    gestandenen Angst heiser gewordenen Stimme: »Halt, Nic!
    Haltet ein!«
    Der Förster hörte gar nicht darauf.
    »Kommt herunter, aber sofort, oder ich gehe!« jammerte
    der Doktor, der mit Mühe wieder auf die Füße gekommen
    war.»Geht doch, wenn’s Euch Spaß macht!« rief Nic Deck
    herunter.
    Immer weiter kletterte der junge Mann an der Zugbrü-
    ckenkette hinauf.
    Doktor Patak, jetzt von beispiellosem Schrecken gepackt,
    wollte den schmalen Pfad der Außenböschung wieder auf-
    suchen, um darauf an den Rand des Plateaus des Orgall zu
    gelangen und, was er laufen konnte, den Weg nach Werst
    wieder einzuschlagen.
    Oh Wunder, vor dem alle, die die vergangene Nacht ge-
    stört hatten, völlig verblaßten – er konnte sich nicht mehr

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    von der Stelle rühren! Seine Füße schienen wie festgehalten
    von den Backen einer mächtigen Zange. Vielleicht konnte er
    einen Fuß nach dem andern frei bekommen. Nein, auch das
    nicht – beide hingen mit den Absätzen und den Sohlen der
    Stiefel unverrückbar fest. Hatte sich der Doktor vielleicht in
    die Fangeisen einer Falle verirrt? Er war jetzt viel zu ver-
    dutzt, um das erkennen zu können. Es schien aber weit eher,
    als ob er durch die eisernen Nägel seines Schuhwerks fest-
    gehalten würde.
    Mochte dem sein, wie ihm wolle, der arme Mann fühlte
    sich an der Stelle, wo er stand, unbeweglich festgebannt – er
    war an den Erdboden genietet. Da es ihm an Kraft fehlte
    zu rufen, streckte er voller Verzweiflung die Arme aus. Es
    hatte den Anschein, als wolle er einem Ungeheuer, dessen
    Rachen über der Erde gähnte, die innersten Eingeweide he-
    rausreißen.
    Inzwischen war Nic Deck bis zur Höhe des Ausfalltors
    gelangt und wollte eben die Hand auf eines der Eisenbänder
    legen, das den einen Haspen der Zugbrücke hielt.
    Da entrang sich ihm ein schmerzlicher Aufschrei, dann
    streckte er sich wie vom Blitz getroffen rückwärts, glitt an
    der Kette, die er mehr instinktmäßig im letzten Augenblick
    wieder ergriffen hatte, herunter und stürzte auf der Erde zu-
    sammen.
    »Die Stimme hat es ja vorausgesagt, daß mir ein Unglück
    zustoßen würde«, murmelte er. Dann schwand dem Förster
    das Bewußtsein.
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    Wie sollen wir die Beängstigung schildern, die seit dem Weg-
    gang des jungen Försters und von Doktor Patak herrschte!
    Sie schien mit jeder weiteren Stunde nur noch zu wachsen,
    da die Zeit der Abwesenheit der beiden allen schier endlos
    vorkam.
    Meister Koltz, der Gastwirt Jonas, Magister Hermod und
    einige andere waren überhaupt gleich auf der Terrasse im
    Dorf geblieben. Keiner ließ davon ab, die ferne Masse der
    Burg zu betrachten und besonders aufzupassen, ob über
    dem Wartturm wieder eine Rauchsäule sichtbar würde.
    Doch kein Rauch wollte sich zeigen, was mithilfe des unab-
    änderlich nach dem Karpatenschloß gerichteten Fernrohrs
    deutlich erkannt wurde. Die beiden für dieses Instrument
    ausgegebenen Gulden waren wirklich gut angelegtes Geld
    gewesen. Niemals hatte der übrigens etwas habsüchtig an-
    gelegte Biró, der die eigene Börse gern zuhielt, eine auf seine
    Rechnung gemachte Ausgabe so wenig bereut wie im vor-
    liegenden Fall.
    Mittags um halb 1, als der Schäfer Frik von der Weide
    zurückkam, bestürmten ihn alle mit neugierigen Fragen,
    ob etwas Neues, etwas Außerordentliches, etwas Übernatür-
    liches vorgekommen sei.
    Frik antwortete, daß er weit durch das Tal der Walachi-
    schen Sil gezogen sei, ohne etwas Verdächtiges bemerkt zu
    haben.
    Nach dem Mittagessen, so um 2 Uhr, eilte jeder wieder
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    auf seinen Beobachtungsposten. Keiner hätte daran gedacht,
    heute daheim zu bleiben, und keiner dachte auch daran, den
    ›König Mathias‹ nur mit einem Fuß zu betreten, wo sich so
    verderbendrohende Stimmen vernehmen ließen. Daß die
    Wände Ohren hatten, mochte ja noch hingehen, denn an
    diese Vorstellung ist man am Ende durch den allgemeinen
    Sprachgebrauch gewöhnt, aber auch noch einen Mund! Das
    war doch wirklich zu verrückt!
    Der würdige Gastwirt konnte wirklich fürchten, daß
    über sein Haus eine Art Quarantäne verhängt

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