Das Karussell der Spitzbuben
sein Glas, nahm einen Schluck und beschloß seine Betrachtung mit dem Hinweis: „Ich bin der Ansicht, daß das eine Angelegenheit für den Lehrer ist. Der wird stets fürs Geschichtenerzählen bezahlt!“
Doch da erhielt Lerron Unterstützung durch den Bürgermeister: „Warum eigentlich nicht. Ich bin dafür!“
„Ich auch!“ schloß sich der Kaufmann Roche an.
Und auch der Polizist Collet nickte jetzt voller Eifer. Da klatschte Gustav Lerron in die Hände und verkündete freudestrahlend: „Marc Loire, du bist überstimmt! Und weil du immer so gern von deinem Mut, von deinem Draufgängertum und von deiner mangelnden Angst sprichst, werde ich heute zum Auftakt eine Geschichte erzählen, wo sich selbst dir die Haare sträuben werden.“ Marc Loire, ein wenig gekränkt, machte eine ärgerliche Handbewegung: „In einigen Dingen, mein lieber Gustav, hast du wieder einmal maßlos übertrieben. Nur in einem hast du recht: Ich kenne keine Angst. Ich bin der Meinung, daß nur dumme Menschen Angst haben!“
Sekundenlang prasselten die Gegenargumente auf den Versicherungsvertreter hernieder, und ebensolange konnte niemand mehr sein eigenes Wort verstehen.
Marc Loire schien jetzt ernsthaft beleidigt zu sein: „Mit anderen Worten, ihr haltet mich für einen Dummkopf!?“
„Unsinn, Marc!“ versuchte der Bürgermeister einzulenken. „Du mußt nicht immer jedes Wort auf die Goldwaage legen... Also, Gustav, was ist jetzt mit deiner haarsträubenden Geschichte?“
Auch die anderen schlugen in die gleiche Kerbe, und der Apotheker ließ sich nicht mehr lange bitten: „Die Geschichte heißt“, begann er, „allein mit sieben roten Affen.“
„Das soll ein Titel sein?“ erkundigte sich Collet mit ungläubigen Blicken. Lerron aber nickte mit Nachdruck. „Was ist daran auszusetzen? Es ist ein Titel wie jeder andere.“
„Das finde ich nun wieder nicht“, mischte sich Roche ein. „Ich würde eher sagen, daß es ein recht ausgefallener Titel ist
Der Apotheker schlug die Hand auf den Tisch, daß die Weingläser klirrten, und fragte aufgebracht: „Soll ich nun erzählen, oder wollt ihr euch über den Titel streiten?“
„Wir sind ganz Ohr!“ versicherte Jonas, der Bürgermeister, mit einem Augenzwinkern und setzte sich ostentativ in Zuhörerpose. Auch die anderen blickten jetzt erwartungsvoll auf den Apotheker Lerron...
„Ich habe die Geschichte von einem Arzneimittelvertreter... Er hat sie mir bei seinem letzten Besuch erzählt. André Passou, so heißt er, hat sie selbst erlebt. Und zwar, als er auf der Route Paris — Orléans unterwegs war.
Die Geschichte begann damit, daß plötzlich auf einen Schlag beide Hinterreifen platzten. Bis zur nächsten Ortschaft waren es zwar nur sechs Kilometer, aber da er so viele Medikamente im Wagen hatte, wollte er ihn nicht allein zurücklassen. So wartete er.
Aber es war wie verhext. Kein Auto, kein Radfahrer, kein Fußgänger kam des Weges. André Passou war der Verzweiflung nahe.
Endlich, lange nach Einbruch der Dunkelheit, tauchte eine alte Frau auf. Schweigend hörte sie sich Passous Malheur an und versprach Hilfe zu schicken.
Wieder tropften für André Passou die Minuten endlos dahin. Doch dann stutzte er. Ganz deutlich hörte er aus der Ferne das Geräusch eines sich nähernden Pferdewagens. Und er hatte sich nicht verhört: Es handelte sich wirklich um einen Zweispänner. Auf dem Bock saß ein in Schwarz gekleideter Mann, der ihm erklärte, daß er vor Tagesanbruch niemand fände, der ihm die Reifen in Ordnung bringen würde. Und er lud ihn ein, diesen neuen Tag im Schloß Loupou abzuwarten. Obwohl Passou noch nie etwas von einem Schloß Loupou gehört hatte, dachte er nicht weiter über diese Tatsache nach und half dem Kutscher, das Gepäck vom Auto auf den Pferdewagen umzuladen. Fünfzehn Minuten später passierten sie das Schloßtor, das mit donnerndem Krachen hinter ihnen zuschlug.
Vom Schloß selbst sah André zunächst nur die Silhouette. Doch dann führte ihn der Schwarzgekleidete durch hallende Gänge, weite Säle und hohe Räume. Alle diese Gemächer hatten eines gemeinsam: sie waren leer. Es gab weder Möbelstücke noch Teppiche, noch Bilder. Dann standen sie vor einer breiten großen Tür, und der Kutscher beugte sich vor und preßte sein Ohr lauschend an das Holz. In diesem Augenblick ertönte von jenseits der Tür ein lauter, kreischender Schrei.
André Passou hielt den Atem an, und er spürte, wie sein ganzer Körper von einer pickeligen
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