Das Kastanienhaus
angenommen werden, hat das Kriegsministerium heute verlauten lassen.
Die Buchstaben flimmerten vor meinen Augen und warfen vor allem zwei Fragen auf. Galt dieses Angebot für alle Internierten, unabhängig von ihrer Nationalität? Und würde Stefan sich melden? Ich las weiter.
Wenn hinreichend viele Bewerbungen eingehen, wird in Australien ein Trainingsprogramm durchgeführt, bevor es zu einem Einsatz in den Überseegebieten kommt.
Noch mehr Fragen. Würden genügend Bewerbungen eingehen? Wenn Stefan sich meldete, wohin würden sie ihn schicken? Vielleicht sogar zuerst nach England? Mit dem Flugzeug, mit dem Schiff? Kamen Schiffe überhaupt noch durch?
» Sieht so aus, als würde dein Junge nach Hause kommen können « , sagte Gwen mit der für sie typischen Nüchternheit.
Immer wieder studierte ich den kurzen Zeitungsartikel, versuchte ihn zu verstehen, betete für Stefans Sicherheit und murmelte wie ein Mantra vor mich hin: » Bitte komm bald nach Hause, bitte bleib gesund und komm zu mir zurück. « Weiterhin trafen Briefe ein, ohne diese Möglichkeit einer Entlassung auch nur mit einer Silbe zu erwähnen. Erst wunderte ich mich, bis mir klar wurde, dass diese Briefe bereits vorher geschrieben worden waren – die Post war bis zu zwei Monate unterwegs.
Im September hieß es endlich, er hoffe, bald nach Hause zu kommen, dann hörte ich nichts mehr von ihm. War er womöglich schon auf dem Rückweg? Oder was hatte sein Schweigen zu bedeuten? Ich fragte im Kriegsministerium nach, doch niemand wollte mir Auskunft geben. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten.
Weihnachten ging vorüber, und ich begann die Hoffnung zu verlieren. Doch im Januar – ich war gerade erst ein paar Tage zurück im Büro – klopfte meine Sekretärin an, lugte zögerlich durch die Tür, weil ich Anweisung gegeben hatte, mich nicht zu stören.
» Miss Lily, ich weiß, Sie wollen heute Morgen keine Anrufe, aber da ist ein Mr. Stephen Holmes am Telefon, und der lässt sich nicht abwimmeln. «
» Können Sie nicht herausfinden, was er will? « , fragte ich unwirsch. Der Jahresabschluss lag auf meinem Schreibtisch, und ich musste mich durch die Bilanzen quälen. Eigentlich nicht sonderlich kompliziert, doch Buchhaltung gehörte weder zu meinen herausragenden Talenten noch zu meinen bevorzugten Betätigungsfeldern.
Einen Augenblick später war sie wieder da. » Das möchte der Herr nicht sagen. Es sei persönlich, meinte er. «
» Ich kenne keinen Mr. Holmes, weder persönlich noch sonst wie. Sagen Sie ihm, ich rufe zurück. « Langsam wurde ich ärgerlich.
Als sie das nächste Mal zurückkam, lächelte sie bedeutungsvoll, als wüsste sie etwas Interessantes.
» Ja, was ist denn noch? «
» Miss Lily, der Gentleman lässt fragen, ob der Name Stefan Ihnen irgendwas sagt. «
Die Welt schien für eine Sekunde anzuhalten. Sie sagte, noch immer lächelnd: » Miss Lily! Ist alles in Ordnung mit Ihnen? «
» Entschuldigung, ja. Mir geht’s gut. Ich nehme das Gespräch an « , sagte ich atemlos, und mein Herz klopfte wie wild. » Bitte stellen Sie durch. «
Meine Hand zitterte, als ich den Hörer abhob. » Stefan? Bist du’s wirklich? Wo steckst du? «
» Jetzt Stephen, ich erkläre es dir später. In Liverpool. Bin grade vom Schiff runter. « Seine Stimme war immer noch dieselbe, warm und tief, allerdings viel englischer. Nur ein leichter Akzent war noch zu hören. » Wir müssen uns beeilen, ich habe gerade meinen letzten Sixpence eingeworfen. «
» Kannst du nach Hause kommen? « Ich hielt die Luft an. Das Verlangen, ihn in den Armen zu halten, war so heftig, dass es mich zu ersticken drohte.
» Ich bin übermorgen in London. Können wir uns dort sehen? «
» Natürlich. Wohin? « In der Leitung fing es an zu piepen.
» Waterloo. Punkt zwölf « , sagte er noch, bevor die Verbindung unterbrochen wurde. Ich hielt den Hörer in der Hand, bis das Amtszeichen mir laut ins Ohr tutete. Als ich auflegte, rannen mir Tränen der Erleichterung über die Wangen, tropften auf die Geschäftsbücher und verschmierten die Zahlen. Es war mir gleichgültig. Zur Hölle mit der Abrechnung, dachte ich, trocknete mir das Gesicht und tupfte mit meinem Taschentuch die wässrig blauen Pfützen weg. Nichts war mehr wichtig, außer dass er nach Hause kam.
Die nächsten zwei Tage stürzten mich in ein Wechselbad der Gefühle: Höchste Euphorie und tiefste Sorge lösten einander ständig ab. Leicht beklommen berichtete ich Mutter und Gwen am Abend
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