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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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war er mir zunächst fremd. Das war nicht mehr der Körper eines Jungen, sondern der eines Mannes: Einst blass und überschlank, war er jetzt muskulös und gebräunt, seine schmalen Schultern und Schenkel waren kräftiger geworden, seine Stimme klang tiefer und männlicher, und die Haare auf seiner Brust ließen sich beim besten Willen nicht mehr zählen. Doch als wir uns küssten, waren sein Geschmack und das Gefühl seiner Lippen auf meinen genau so, wie ich es in Erinnerung hatte – und als unsere Körper sich vereinten, war es noch viel schöner als damals, und ich spürte, dass unsere Empfindungen durch die lange Trennung nur stärker geworden waren.
    » Ich habe so oft davon geträumt « , sagte er, rollte sich auf den Rücken und betrachtete die Schimmelflecken an der Decke. » Aber in Wirklichkeit ist es viel besser als in meinen Träumen. «
    Wir kuschelten uns zum Schutz gegen die Kälte unter der ausgefransten Decke zusammen. Das Bett, das vor wenigen Momenten noch peinlich geknarrt hatte, wurde jetzt zum warmen Kokon, der uns vor der Welt schützte und mich an unser Zusammensein im Cottage erinnerte. Obwohl es inzwischen anderthalb Jahre her war, kam es mir vor, als sei es gestern gewesen. Hier gab es statt Kerzen und Wiesenblumen in einem Marmeladenglas bloß billige Sperrholzmöbel und als Dekoration geschmacklosen Nippes sowie als Draufgabe einen ewig tropfenden Wasserhahn, und dennoch fühlte sich dieses Zimmer an wie eine kleine Ecke vom Paradies.
    Er musterte die Stockflecke an der Decke.
    » Was siehst du dort oben? « , fragte ich.
    Er zog einen Arm unter mir hervor und deutete auf die verfärbten Stellen. » Dort drüben ein Schiffchen. Daneben eine Spule und einen Strang Rohseide. Ist das da ein Webgatter? Siehst du, ich erinnere mich an alles. «
    Er stützte sich auf einen Ellenbogen und sah mir ins Gesicht. » Deinetwegen, Lilymaus, ist aus diesem nichtsnutzigen jüdischen Rebellen ein Seidenweber geworden, und jetzt bin ich ein echter englischer Soldat. «
    Nachdem wir uns geküsst hatten, fragte er mich: » Und was kannst du sehen? «
    » Ich sehe « , sagte ich und blickte ihm in die Augen, » den Mann, den ich liebe. Jude, Deutscher, Engländer. Stephen, Stefan – es ist mir vollkommen egal, wer du bist. «
    Als die Abenddämmerung hereinbrach, zogen wir die Verdunkelungsrollos herunter. Weil aber das grelle Licht der Glühbirne an der Decke unsere Augen blendete, verzichteten wir auf die Verdunkelung und begnügten uns mit dem letzten Rest von Helligkeit, der von draußen hereindrang. Ohne Straßenbeleuchtung und Autoscheinwerfer kamen wir uns fast vor wie auf dem Land und hielten uns eng umschlungen im sanften Licht des Abendhimmels.
    Jede Minute war kostbar und durfte nicht verschwendet werden. Statt zum Essen nach unten in ein Café zu gehen, rauchten wir eine Zigarette nach der anderen, um den Hunger zu vertreiben. Er wollte wissen, wie es in Westbury lief, und fragte mich behutsam, während er mit dem Finger über die Narbe strich, nach den Umständen des Unglücks in der Cheapside. Es war das erste Mal seit Monaten, dass ich darüber sprach, und natürlich kehrte der Schrecken zurück, doch in Stefans Armen fühlte es sich ein bisschen weniger grausam an.
    » Ich bin Mr. Harold sehr dankbar « , sagte er. » Er hat alles getan, um uns zu beschützen. Er war wie ein Vater zu uns. «
    Als ich schließlich nichts mehr zu berichten wusste, sagte ich: » Und jetzt bist du dran. Ich möchte alles wissen, jede noch so kleine Einzelheit. Lass bitte nichts aus. «
    Und so begann er zu erzählen. Mit Tausenden anderer Internierter waren Kurt, Walter und Stefan – oder Stephen, wie ich ihn jetzt nennen sollte – auf ein Schiff verfrachtet worden, das Dunera hieß, und dann begann eine zweimonatige Überfahrt, die zum Albtraum wurde.
    » Wir waren dreitausend auf einem Schiff, das bloß für sechzehnhundert Leute Platz bot. Kannst du dir das Gedränge vorstellen? Hauptsächlich handelte es sich um Deutsche und Italiener, von denen einige seit Jahren in England lebten und dennoch als feindliche Ausländer klassifiziert wurden. Verrückt. Es war furchtbar eng und stickig auf dem Kahn und der Gestank ekelhaft. In der zweiten Nacht wurden wir zu allem Überfluss von einem Torpedo getroffen, konnten aber weiterfahren. Allerdings im Zickzack, immer mit wechselnden Richtungen, um deutschen U-Booten auszuweichen. Wir wussten nie, welchen Kurs das Schiff gerade einschlug. Man hatte uns im

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