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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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von Stefans Anruf, und sie stellten lauter Fragen, die ich nicht beantworten konnte: » Was ist mit Kurt und Walter? « und » Wird er sich zum Kriegsdienst melden, wie es in der Times stand? « Aber vor allem freuten sich beide für mich.
    » Du hast so lange auf den Jungen gewartet – da muss er dir wirklich eine Menge bedeuten « , sagte Mutter. » Heutzutage müssen wir unser Glück am Schopf packen, wo und wann wir es finden. «
    Ich sehnte mich verzweifelt danach, ihn zu sehen und im Arm zu halten. Achtzehn lange, schwere Monate waren vergangen. Würde er mich immer noch attraktiv finden? Ich musterte mich im Spiegel und stellte fest, dass auch an mir der Krieg mit seinen Belastungen nicht spurlos vorbeigegangen war. Nichts war mehr zu sehen von dem unbekümmerten Mädchen. Fast ohne dass wir es bemerkt hatten, war unser Leben trist und alltäglich geworden und das Äußere irgendwie ebenfalls. Weil mir das Essen nicht schmeckte, hatte ich Gewicht verloren, meine Haut wirkte grau und fahl, mein Haar stumpf und meine Frisur viel zu streng. Ich hatte aufgehört, mich hübsch herzurichten. Selbst meine Narbe, die sich immer noch als rosa Linie von der Schläfe bis zum Kinn zog, versuchte ich nicht mehr zu verdecken. Wann hatte ich das letzte Mal Make-up verwendet? Vermutlich bei einem geschäftlichen Termin.
    Sicher sah Stefan ebenfalls verändert aus nach allem, was er durchmachen musste im vergangenen Jahr. Wie würde er aussehen? War er härter geworden oder gar verbittert? Und natürlich fragte ich mich, warum er nicht nach Westbury kommen konnte. Vermutlich hatte es mit dem Pionierkorps zu tun.
    In der Nacht vor unserem Treffen beschäftigten mich jedoch rein praktische Erwägungen: Was sollte ich anziehen? In schlechten Zeiten ein großes Problem, denn die meisten meiner Kleider waren inzwischen abgetragen und schäbig, die Strümpfe hatten Laufmaschen. Passabel sah eigentlich nur noch das aus, was ich zu Besprechungen anzog oder zu festlichen Anlässen – beides also ungeeignet und übertrieben.
    Nach langem Hin und Her und einer Diskussion mit Gwen entschied ich mich für eine lässige Hose und eine rosa Strickjacke, die ich mir von Mutter auslieh. Die Farbe schmeichelte meinem Teint, und die Perlenknöpfe verliehen ihr einen Hauch von Eleganz. Ich würde zwar meinen alten Dufflecoat überziehen müssen, um nicht zu frieren, aber ich konnte ihn ja für den Moment des Wiedersehens auf dem Bahnsteig über dem Arm tragen, dachte ich und lächelte, als ich mir die Szene vorstellte.
    Erst mal zog ich den Mantel an, denn der Zug nach London war unbeheizt, obwohl es draußen eisig kalt war. Im Bus zwischen Liverpool Street und Waterloo Station richtete ich mich ein letztes Mal für das Wiedersehen her. Erneuerte das Make-up, die Wimperntusche, den Lippenstift – alles vor einem kleinen Taschenspiegel in einem schaukelnden Doppeldecker. Ich kam mir vor wie ein Schulmädchen vor dem ersten Date, fieberte dem Augenblick entgegen, wenn ich ihn endlich sehen würde.
    Und dann erkannte ich ihn nicht gleich in seinem unförmigen Kampfanzug, den braunen Schnürstiefeln und dem militärischen Haarschnitt. Wartend stand er mit einem Dutzend anderer Soldaten, die genauso gekleidet waren wie er, unter der Bahnhofsuhr, und alle hielten Ausschau nach ihren Freundinnen.
    » Stefan? Bist du das? «
    » Jetzt Stephen, denk bitte dran « , flüsterte er, gab mir einen Kuss auf die Wange und fuhr mit der Hand über mein Haar. Anders als am Telefon konnte ich bei ihm nicht einmal mehr den Hauch eines Akzents erkennen. Er war durch und durch ein englischer Soldat.
    Ich berührte den rauen Stoff seines Ärmels. » Das fühlt sich an wie ein Traum. «
    Er grinste. Seine Zähne blitzten weiß in seinem wüstengebräunten Gesicht, und Lachfältchen bildeten sich um seine Augen. » Warte, bis ich dich richtig küsse « , flüsterte er. » Dann wirst du wissen, dass es echt ist. «
    » Wo sind Kurt und Walter? «
    » Das ist eine lange Geschichte. «
    » Wir haben uns so viel zu erzählen. Wie lange hast du Zeit? «
    » Bis morgen früh. «
    Bloß eine Handvoll Stunden – nach so vielen Monaten der Trennung. Ich nahm seine Hand. » Dann komm. Lass uns ein Hotel suchen und das Beste daraus machen. «
    Er roch völlig fremd – keine Ahnung, wonach. Vielleicht nach muffigen Eisenbahnabteilen und Matratzenlagern in Schiffsbäuchen, nach abgestandenem Zigarettenrauch und was sonst noch. Auch als er die hässliche, kratzige Uniform auszog,

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