Das Kastanienhaus
dich für Stephen entschieden hast. Aber Holmes? Nach deinem Freund Sherlock? « , fragte ich sanft.
» Elementar, mein lieber Watson « , sagte er und lächelte. Ich erinnerte mich an seine tiefe Verbeugung, das Wirbeln mit dem unsichtbaren Schirm. Ein Stück von Stefan, dem Clown, war gerade aufgeblitzt. Von dem Jungen, in den ich mich ursprünglich verliebt hatte.
» Und was passiert jetzt? « , fragte ich und betete, er würde mir nicht sagen, dass man ihn an die Front schickte.
Er zeigte mir sein Barett, an dem ein metallenes Abzeichen glänzte. » Alle ehemals Internierten sind dem Pionierkorps zugeteilt. Scheint ein guter Haufen zu sein. Italiener, Deutsche, alles Mögliche. ›Des Königs treueste Feinde‹ nennen wir uns selbst. «
» Warum Spitzhacke und Schaufel? «
» Wir erledigen alles, wovor die Fronttruppen sich lieber drücken: Gräben ausheben, Schanzen und auch Latrinen bauen, aufräumen, Sachen holen und bringen – die Brigade für die Drecksarbeit « , sagte er heiter und setzte sich auf, um eine Zigarette anzuzünden.
» Wo wirst du stationiert? «
» Ilfracombe « , sagte er und bemühte sich, den merkwürdigen Ortsnamen richtig auszusprechen. » Morgen geht’s los. «
» In Devon? Das ist ein Seebad. « Wenigstens war er in England, dachte ich, und kam nicht an die Front irgendwo nach Afrika.
Seine nächste Bemerkung versetzte mir sogleich einen Dämpfer. » Mit ein bisschen Glück muss ich diese Arbeit nicht lange machen, weil ich mich zu einem Kampfregiment melden möchte. «
Nachdem er eingeschlafen war, lauschte ich seinen ruhigen Atemzügen und wünschte mir, sie in allen Nächten hören zu können. Ich dachte daran, welche Entscheidung er getroffen hatte – er war meinetwegen in dieses vom Krieg gebeutelte Land zurückgekehrt, statt in Australien zu bleiben. Und natürlich geschah es auch wegen seiner Eltern, weil er etwas für sie tun wollte. Seine Stimme hatte so traurig geklungen, als er über seine Sorgen sprach, weil er nie von ihnen eine Nachricht bekam. Ich lag schlaflos neben ihm. Die Ungewissheit, was die nächsten Monate bringen würden, quälte mich die ganze Nacht, bis ich die Wirtin in der Küche hantieren hörte und der Duft von Kaffee und getoastetem Brot mir signalisierte, dass unsere kostbare Nacht vorüber war.
» Pass auf dich auf « , sagte ich, als er nach dem Frühstück seinen Seesack schulterte. » Und komm bald nach Hause, nach Westbury. «
» Nach Hause, das klingt gut « , sagte er und gab mir einen Kuss auf die Wange. » Ich rufe dich an, sobald ich kann. «
Dann war er fort.
Ich saß auf dem zerwühlten Bett und drückte das Kissen an mein Gesicht, doch sein Geruch wurde bereits schwächer. Schließlich räumte ich ebenfalls meine Sachen zusammen, steckte die Hay-Camp-Pfundnote in meine Handtasche und schickte mich an, mich aufs Neue dem Alltag zu stellen.
Kapitel 18
Während China viele Jahrhunderte lang weltweit der Hauptproduzent von Rohseide war, führten die Japaner im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert Mechanisierungsmaßnahmen und Qualitätskontrollen ein, um Garne von neuer und erstaunlicher Gleichmäßigkeit zu produzieren. Während des Krieges wurde Rohseide aus dem Nahen Osten beschafft, die jedoch niemals die Qualität der japanischen Seide erreichte.
Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
Im Vergleich zu vielen anderen konnten wir uns glücklich schätzen. Stefan diente über ein Jahr beim Pionierkorps und war in dieser Zeit mal hier und mal dort stationiert. Obwohl wir nicht viele Gelegenheiten erhielten, uns zu sehen, weil die Zeit nie reichte, hatten wir es doch besser als andere, die weit, weit weg waren. Wir telefonierten häufig, schrieben uns regelmäßig, sahen uns allerdings kaum.
Obwohl es den Anschein hatte, als würde sich das Kriegsglück endlich wenden, blieb das Leben weiterhin hart. Wir arbeiteten in der Fabrik in mehreren Schichten, und während der letzten Wochen war einiges ziemlich schiefgelaufen.
Als ich an jenem Morgen die schwere grüne Tür aufsperrte und in die noch leere Fabrik schlüpfte, konnte ich bereits das Telefon klingeln hören. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte ich die Treppe hoch, stolperte und stieß mir das Schienbein an. Fluchend rappelte ich mich auf und suchte am Schlüsselbund nach dem richtigen Schlüssel für die Bürotür.
Noch immer schrillte das Telefon, verstummte aber genau in dem Moment, als ich nach dem Hörer griff. Wer zum Teufel rief mich so
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