Das Kastanienhaus
Allerdings brachte ich weder den Wunsch noch die Kraft auf, sie aufzuhalten. Verantwortung abzugeben, fühlte sich köstlich an.
» Die Seide, die Fallschirmseide. Bert hat’s versaut, als Mrs. Ach-so-wichtig woanders beschäftigt war. Deshalb ist Stefan jetzt tot. Und noch drei andere aus seiner Einheit. Verdammte fehlerhafte Fallschirmseide. « Ich sprach diese letzten drei Wörter sehr sorgfältig aus – es klang in meinen Ohren so gut, dass ich die Wortfolge mit den phonetisch gleichen Anfangsbuchstaben noch einmal wiederholte. » Verdammte fehlerhafte Fallschirmseide. «
Sie schloss die Tür hinter sich. » Hör auf zu brüllen, du weckst bloß Grace auf « , sagte sie leise. » Du bist betrunken. «
» Sehr scharfsinnig von dir « , nuschelte ich.
» Setz dich hin « , sagte sie jetzt ein bisschen energischer. » Ich hol dir einen Kaffee. «
» Nein « , schrie ich und schwankte gefährlich. » Ich will keinen verdammten Kaffee. Will gar nichts. Hau ab. «
» Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Beruhige dich und versuch mir zu erklären, was du meinst. « Selbst mit meinen vom Alkohol getrübten Sinnen konnte ich erkennen, dass sie langsam die Geduld verlor.
» Das kann ich dir sagen, was ich meine. « Ich starrte sie an und bemühte mich, aufrecht stehen zu bleiben. Meine Zunge fühlte sich an, als sei sie zu groß für meinen Mund. » Heute war ein Mann da. Freund von Stefan. Hat erzählt, dass sie alle aus dem Flieger gesprungen sind. Über Frankreich. Und dann waren vier tot. Weil was mit dem Fallschirm war. «
Für einen Moment herrschte absolute Stille, bis Gwen auf mich zukam. » Lily, warum bist du nicht zu mir gekommen und hast es mir erzählt? «
Ich hob die Hände, um sie abzuwehren, und verlor dabei fast das Gleichgewicht. » Komm mir nicht zu nahe, du, du … « Trotz meiner Trunkenheit schaffte ich es so gerade eben, dieses eine Wort noch runterzuschlucken. Natürlich wusste sie genau, was ich sagen wollte, und wich zurück.
» Fallschirme können aus vielen verschiedenen Gründen nicht funktionieren. Woher willst du wissen, dass es an der Seide lag? «
» Ich erzähl’s dir jetzt! « Meine Stimme hallte laut und ziemlich betrunken durch den Raum.
» Was für fehlerhafte Seide meinst du überhaupt? « , hakte sie jetzt nach. » Schließlich haben wir niemals fehlerhafte Seide verkauft, zumindest nicht wissentlich. « Sie stockte, als sie zu begreifen begann. » Um Himmels willen, Lily, sind das etwa diese Ballen von damals? Von diesem Nachmittag? «
» Genau. Es war der Nachmittag, als du hättest aufpassen sollen, Gwen. Und dann bist du gegangen und hast Bert die Fehler machen lassen. «
» Aber ich habe dir gesagt, dass zwei Ballen nicht ausgeliefert werden dürfen. Du hast sie Robbie doch nicht etwa mitgegeben, oder? « Ihre Stimme klang alarmiert, und ihre Augen funkelten vor Erregung.
» Er wollte zwanzig Ballen – und ich hatte ihm zwanzig versprochen. «
» Du hast es ihm nicht gesagt? Mit keiner Silbe? «
» Natürlich nicht. Weißt du auch, warum? Weil er gedroht hat, uns den Vertrag wegzunehmen, und dann wären wir am Ende gewesen. «
Ein winziger Rest von Vernunft flackerte auf und sagte mir, dass es trotzdem nicht richtig war. Kein noch so lukratives Geschäft war es wert, dass man dafür Menschenleben aufs Spiel setzte. Mein Zorn fing an zu verrauchen, und ich fühlte mich bloß noch leer und taub und ausgebrannt.
» Geh einfach weg. Ich will schlafen. « Und ohne dass ich es wirklich realisierte, war sie weg, die Tür geschlossen, das Zimmer dunkel. Und ich stand nach wie vor da und stützte mich auf die Kommode. Erst jetzt kroch ich zurück ins Bett und fiel in traumloses Vergessen.
Am nächsten Morgen wachte ich mit schrecklichen Kopfschmerzen und rasendem Durst auf und ging nach unten, um Wasser zu trinken. Die Ereignisse des letzten Tages erschienen mir wie ein furchtbarer Albtraum, und ich konnte nicht glauben, dass sie passiert waren.
Doch als ich in die Küche kam, wartete da ein an mich adressierter Brief, der an einer leeren Milchflasche lehnte. Ich setzte mich hin und las mit hämmerndem Kopf und tränennassen Augen:
Lily,
in den letzten paar Stunden bin ich auf und ab gegangen und habe versucht zu verstehen, was Du mir eigentlich vorwirfst. Es tut mir leid, was Du über die Umstände von Stefans Tod erfahren hast. Auch ich habe ihn sehr gemocht. Ich weiß nicht genau, was sein Freund Dir erzählt hat, aber angesichts von Millionen
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