Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
Vom Netzwerk:
nicht einfach ist, damit sein Geld zu verdienen, wurde sie Musiklehrerin. «
    » Welch ein Zufall. Beide haben wir Mütter mit einer Klavierausbildung « , sagte ich.
    » Meine Mutter war sehr enttäuscht, als ich mich von der Klassik abwandte. Freunde nahmen mich irgendwann in einen Jazzklub mit, und von da an spielte ich keinen Beethoven mehr. Außer Jazz gab es überhaupt keine Musik mehr für mich. Mein Vater bezeichnete mich und die anderen Jungs als Bohemiens. « Er zog an seiner Zigarette und blies drei perfekte Rauchkringel in die Luft.
    Beneidenswert, ich schaffte so was nie. » Wo hast du das gelernt? « , wollte ich wissen, doch er ignorierte meine Frage.
    » Diese Klubs waren es dann allerdings, die mich ernstlich in Schwierigkeiten brachten. «
    Ich erinnerte mich an jenen verregneten Sonntag im Salon, als er uns von der Swingjugend erzählte, die mit Musik gegen die Nazis protestierte. » Was genau ist damals passiert? «
    » Jazz ist in Deutschland verboten, und die Behörden machten die Klubs dicht, sobald sie einen entdeckten. Nicht nur in Hamburg, auch in anderen Großstädten, soweit ich weiß. Wir wollten das nicht hinnehmen und machten erst recht weiter. Aus … « Er unterbrach sich, als habe er den Faden verloren.
    » Aus Protest? «
    » Ja, genau « , sagte er. » Aus Protest gegen die Nazis. Es war unsere Form des Widerstands. « Ich hatte immer noch Mühe zu verstehen, warum Musik überhaupt verboten wurde. Erst recht eine, die so gute Laune erzeugte. » Was ist so schlimm an Jazz? «
    » Es ist Negermusik, sagen die Nazis. Nicht rein, sondern schmutzig. Nicht erhaben, sondern minderwertig. Dasselbe sagen sie über die Juden. «
    Schockiert schwieg ich. Schmutzig? Dieser kluge, sensible Junge mit seinen eleganten Bewegungen, was war an dem minderwertig? Ich konnte es nicht glauben, wollte es nicht verstehen, weil es so absurd war. Und außerdem so schrecklich traurig. » Erzähl mir, was dann passiert ist. «
    » Als sie uns festnahmen, sagten sie, wir würden in ein Arbeitslager geschickt, falls sie uns noch einmal erwischen sollten. Es war uns egal. Allein Widerstand schien wichtig. Für mich kam hinzu, dass es für Juden inzwischen ganz unerträglich geworden war. Manche trauten sich schon gar nicht mehr auf die Straße … «
    Er sah hinaus auf die Wiese, als spräche er mit sich selbst. » Als ich nach Hause kam, sagte mein Vater, sie wollten versuchen, mich aus Deutschland fortzuschaffen. Aus den Lagern war nämlich noch nie jemand zurückgekehrt. Ich erklärte ihn für verrückt. Nie im Leben würde ich meine Familie verlassen, dachte ich. Aber er ließ nicht locker, setzte sich mit irgendwelchen jüdischen Stellen in Verbindung und schaffte es, mich auf die Liste der sogenannten Kindertransporte nach England zu kriegen. Wie genau das gelaufen ist, keine Ahnung. Er stellte mich vor vollendete Tatsachen und versprach mir, sie würden bald nachkommen. Doch das wird nie passieren, denn meine Eltern haben kein Geld mehr, seit sie nicht mehr unterrichten dürfen. « Seine Stimme brach, und er verstummte.
    » Du weißt ja, dass mein Vater versucht, von hier aus Visa für sie zu bekommen? « , fragte ich. Weil er ihnen gleichzeitig Arbeit anbieten könnte, würde von britischer Seite ihrer Einreise nichts im Wege stehen. Aber sie brauchten Geld, damit man sie in Deutschland gehen ließ. Damit sie sich freikaufen konnten. Vater hatte seine Rotarier um finanzielle Unterstützung gebeten. Wie erniedrigend musste das für Stefans Familie und all die anderen sein. Vor allem musste schnell gehandelt werden, denn brach der Krieg erst einmal aus, dann würde alle Hilfe zu spät kommen. Es war ein Wettlauf mit der Zeit.
    Stefan zündete sich eine weitere Zigarette an, hob sie mit zitternder Hand an die Lippen und atmete langsam aus. » Ich werde diesen Tag nie vergessen. Weil die Nazis zu große Aufmerksamkeit fürchteten, erfolgte die Abreise so unauffällig wie möglich – deshalb durften die Familien nicht auf den Bahnsteig. Ich verabschiedete mich zu Hause. Alle außer Vater weinten. Er versuchte stark zu sein, um es mir nicht noch schwerer zu machen. «
    Seine Stimme versagte, und er schwieg. Ich legte die Hand zärtlich auf seine Schulter. Ohne Vorwarnung warf er seine Zigarette fort, drehte sich auf der Bank um, schlang die Arme um mich und vergrub das Gesicht an meinem Hals. Sein Haar roch nach Schweiß, Rasierseife und Zigaretten. Wir hielten einander lange Zeit fest, lauschten dem

Weitere Kostenlose Bücher