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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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Herzschlag des anderen, atmeten im Gleichklang.
    Irgendwann rückte er von mir ab. Ich hätte gerne etwas gesagt, fand aber nicht die richtigen Worte, und dann war auch schon die Teepause zu Ende. Als wir in die Fabrik zurückgingen, kamen wir an Bert vorbei, einem kleinen, buckligen Mann fortgeschrittenen Alters, der immer dasselbe schäbige Tweedjackett trug. Ich stellte mir vor, dass er Witwer war oder Junggeselle, jedenfalls ein Einzelgänger ohne soziale Kontakte. Er blickte finster und schien uns kaum wahrzunehmen. Trotzdem kam es mir in diesem Moment vage so vor, als würde er mein Zusammensein mit Stefan missbilligen.
    In dieser Nacht war die Hitze so unerträglich, dass ich nicht schlafen konnte. Und während ich wach lag, meinte ich wieder den Druck seiner unbeholfenen Umarmung zu spüren und merkte, wie mein Körper schwer und heiß wurde. Was hatte dieser Augenblick der Nähe zu bedeuten gehabt, fragte ich mich. Wollte Stefan bloß Trost, oder war da mehr? Meine Gedanken verwirrten sich zunehmend, wenn ich an diesen Jungen dachte. Ich ahnte, dass es Vater nicht gefallen würde. Dass er ungehalten wäre und Stefan womöglich fortschickte. Das durfte nicht passieren.
    Vorerst geschah nichts. Stefan und ich arbeiteten weiterhin an unseren Webmaschinen und standen oft nebeneinander, während wir nach gerissenen Kettfäden suchten oder die Spannung an den Gewebebalken überprüften. Hin und wieder wechselten wir ein vertrautes Lächeln, und ein-, zweimal ertappte ich ihn dabei, wie er mich beobachtete. Als die Wochen verstrichen, fragte ich mich, ob dieser Moment am Kesselhaus überhaupt irgendetwas zu bedeuten hatte.
    Außerdem war Robbie der ideale Freund: charmant, reich und witzig. Die perfekte Verbindung. Warum also machte mein Herz keine Sprünge, wenn ich an ihn dachte?

Kapitel 8
    Seide besitzt eine Reihe erstaunlicher Eigenschaften: Sie ist beständig gegenüber Fäulnis, wodurch sie viele Jahre lang ohne Wertminderung gelagert werden kann; sie ist antiallergen, was sie zum idealen Verbandsmaterial macht, und sie hat eine sehr geringe Leitfähigkeit, weshalb sie vielfach zur Isolierung elektrischer Kabel eingesetzt wurde, bevor es Kunststoffe gab.
    Aus: Die Geschichte der Seide von Harold Verner
    Einige Wochen lang war Vater im Land herumgereist und hatte sich mit potenziellen Auftraggebern getroffen, einschließlich Robbies Firma in Hertfordshire.
    Hitler hatte einen Nichtangriffspakt mit Russland geschlossen, was – wie die Zeitungen schrieben – den Deutschen faktisch erlaubte, ungehindert in Polen einzumarschieren, womit der Krieg inzwischen unausweichlich schien. All das beeinträchtigte unser Geschäft erheblich. So schlimm hatte es nach Aussagen meines Vaters noch nie um die Firma gestanden, höchstens vielleicht während der Weltwirtschaftskrise. Seit Wochen waren keine neuen Aufträge mehr eingegangen – wenn es so weiterging, würden wir bald die ersten Arbeiter entlassen müssen.
    Dann plötzlich, an einem Abend im späten August, leuchtete Vaters Gesicht vor Freude. » Es ist noch nicht offiziell, aber unsere Probemuster sind akzeptiert worden « , sagte er und schenkte uns Sherry ein. » Lasst uns darauf anstoßen. «
    » Das Ministerium braucht außer Fallschirmseide auch noch etwas von unserem feinen weißen Taft « , fuhr er fort, nachdem wir unsere Gläser erhoben hatten. » Man wollte mir nicht sagen, wofür, doch einer der unteren Chargen, der sich wohl gerne wichtigmacht, erzählte mir hinter vorgehaltener Hand, dass darauf sogenannte Flucht- und Ausweichkarten gedruckt werden sollten. Die näht man in die Uniformen der Piloten ein, damit sie sich, falls sie über feindlichem Gebiet runtergehen müssen, orientieren und eventuell zurückschlagen können. «
    Wir setzten uns an den Tisch, und Mutter brachte sein Lieblingsessen. » Ich habe Würstchen in Yorkshirepudding gemacht, um deinen Erfolg zu feiern « , sagte sie und lud jedem etwas auf den Teller.
    John war ungewöhnlich still, dachte ich; er hatte nicht mit besonders viel Begeisterung auf Vaters Nachricht reagiert. Und dann fiel es mir wieder ein. Das könnte er sein, der Pilot, der über feindlichem Gebiet abgeschossen würde. Stellte er sich vor, wie das wirklich wäre? Zu frieren, hungrig, verängstigt und wahrscheinlich verletzt zu sein und nicht zu wissen, wem man vertrauen konnte? Eine Karte war da bestimmt nur ein kleiner Trost, aber immerhin ein Anhaltspunkt.
    » Ich habe heute noch etwas erfahren « , sagte Vater

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