Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
Vom Netzwerk:
an. Bis das Bier angezapft wurde – da plötzlich kamen Gespräche in Gang, und der Geräuschpegel stieg. Nach einer Weile bat John um Ruhe, und als Vater auf einen Stuhl stieg, verstummten alle.
    » Ich will keine lange Rede halten « , fing er an und ignorierte den Beifall, » aber ich möchte ein paar Worte des Dankes an unsere Jungs, und natürlich ihre Familien, richten, dass sie so tapfer … «
    Ich beobachtete John und die anderen, keiner älter als fünfundzwanzig, wie sie verlegen und mit eingefrorenem Lächeln dastanden, peinlich berührt von der allgemeinen Aufmerksamkeit. Ein gut aussehender Haufen, dachte ich. Sie sollten ihre Energie in die Liebe und die Arbeit und ins Fußballspielen stecken und nicht kämpfen und töten müssen. Mir wurde ganz elend bei dem Gedanken, dass im ganzen Königreich vermutlich gerade ähnliche Reden gehalten wurden. Wie viele von den tapferen Soldaten würden wohl zurückkehren?
    Mein Blick wanderte zu der Durchreiche, wo Mutter mit dem Limonadenkrug in der Hand um Fassung rang. Ich sah, wie Tränen in ihre Augen traten und ihre Wange hinabrannen. Kathleen legte ihr tröstend den Arm um die Schulter und nahm ihr den Krug aus der Hand. Überall im Raum tupften sich Mütter, Schwestern und Freundinnen verstohlen die Augen, während die Männer mit ausdruckslosen Mienen wie versteinert dastanden.
    Anders als den meisten war mir nicht nach Weinen zumute. Ich war wütend. Auf die Männer, die für diesen Krieg verantwortlich waren. Auf Hitler, diesen gefährlichen Diktator, auf die Nazis insgesamt und auch auf die Deutschen, die diesem Rattenfänger blind und vertrauensselig folgten. Ich nahm es ihnen persönlich übel, dass sie das Existenzrecht der Juden negierten und Eltern keine Wahl ließen, als ihre Kinder außer Landes zu schicken, und dass sie zudem friedfertige junge Männer wie meinen Bruder mit ihrer aggressiven, barbarischen Eroberungspolitik dazu bewogen hatten, sich freiwillig zu melden. Ich biss die Zähne zusammen und spürte, wie mein ganzer Körper vor Wut bebte. Fühlte mich hilflos und verstand mit einem Mal John, der meinte, nicht untätig zusehen zu dürfen. Aber was sollte ich tun?
    Dann fiel mir ein, worin mein Beitrag bestehen könnte. Ich holte tief Luft und legte ein stummes Versprechen ab; ich würde Vater dabei helfen, die kriegswichtigen Lieferungen in einwandfreier Qualität zu produzieren und immer in ausreichender Menge fristgerecht zu liefern. Das schuldete ich John und den anderen Freiwilligen sowie unseren jüdischen Jungen und ihren Familien – ich würde an meinem Platz alles tun, was in meinen Kräften stand, um diesen schrecklichen Krieg zu gewinnen. Und vielleicht konnte ich Vater ja auf diese Weise auch zur Einsicht bringen, sich meiner Liebe zu Stefan nicht länger in den Weg zu stellen und ihn in unserer Familie willkommen zu heißen.
    Laute Hurrarufe rissen mich aus meinen Gedanken. » Ein dreifaches Hoch auf unsere tapferen Jungs! «
    Ich ging zu John hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: » Pass auf dich auf, dass du unverletzt wieder nach Hause kommst. Ich werde alles tun, um Vater zu helfen, solange du weg bist. «
    » Das werde ich, Schwesterchen. Das werde ich « , flüsterte er zurück. » Du bist ein gutes Mädchen. Kümmere dich um die Eltern. «
    Er verließ uns am folgenden Tag, blieb vor dem Abflug nach Kanada noch einen Tag bei Vera in London. Vater war bis zur letzten Minute gefasst gewesen, hatte eine unerschütterlich heitere Miene zur Schau gestellt, doch wenn man genau hinsah, erkannte man die Anspannung, unter der er stand. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, und ich spürte, dass auch er John bereits schmerzlich vermisste. Wir alle fühlten uns, als befänden wir uns in einem luftleeren Raum – zu Hause wie in der Fabrik.
    » Wir machen harte Zeiten durch, Lily « , sagte Vater. Dann hielt er inne und studierte die Tintenflecke auf seiner Schreibtischunterlage. Ich konnte erkennen, dass er Zeit brauchte, um sich zu sammeln. Während ich wartete, blickte ich zu dem Gemälde hinauf, das neben dem Schreibtisch an der Wand hing.
    Joseph, der Gründer des Unternehmens, war vermögend genug gewesen, den berühmten Thomas Gainsborough mit einem Porträt zu beauftragen, jedoch zu geizig – oder einfach nicht reich genug – für ein Bild, das ihn ganz zeigte. Weil er nur den Kopf malen ließ – Oberkörper und Hände hätten zusätzlich gekostet –, war das Porträt von einem Experten als » wenig bedeutsames

Weitere Kostenlose Bücher