Das Kastanienhaus
Anblick.
Sobald alle sich draußen versammelt hatten, fing Robbie an zu sprechen. » Ich dachte mir, Sie würden gerne einmal sehen, wofür Sie so hart arbeiten « , brüllte er gegen das Knattern der Seide im Wind an. » Wir werden in den kommenden Monaten noch viele Tausende wie diesen hier brauchen. Und ich muss Ihnen nicht sagen « , fuhr er fort, und seine Exerzierplatzstimme hallte von den Wänden der Fabrik wider, » wie wichtig diese Arbeit ist – genauso unverzichtbar wie die Herstellung von Waffen, Munition oder Kriegsschiffen. Der Unterschied ist bloß, dass diese Schätzchen hier « , er deutete auf den Fallschirm, der sich, beschienen von der Wintersonne, in der leichten Brise wiegte, » nicht dafür gemacht sind zu töten, sondern Leben retten sollen. «
Der Fallschirm war in der Tat schön. Fasziniert und ein wenig ehrfürchtig bestaunten ihn die Leute, beugten sich darüber, schauten darunter, befühlten das feine Seidengewebe und bewunderten die Fallschirmkappe, die angeschrägten, mit dreifach verzwirntem Garn aneinandergenähten Sektionen, die Säume und die Scheitelöffnung, deren Rand mit festem Tauwerk verstärkt war. Und der Stoff war wahrscheinlich von Stefan oder mir gewebt worden, dachte ich, begriff zum ersten Mal die wahre Bedeutung unserer Arbeit und erkannte voller Stolz ihre Wichtigkeit.
» Und deshalb lautet meine abschließende Botschaft « , Robbie klang plötzlich wie unser Marineminister Churchill, » machen Sie Ihre Arbeit weiterhin so gut. Vergessen Sie niemals, wie bedeutsam sie ist und dass schon ein kleiner Fehler über Leben und Tod entscheiden kann. Zusammen können wir dazu beitragen, diesen elenden Krieg zu gewinnen. « Als er verstummte, riefen alle » Hört! Hört! « oder klatschten Beifall, und Vater schüttelte Robbies Hand.
Umringt von einer Menschenmenge, die in die Fabrik zurückdrängte, half ich gerade dabei, den Fallschirm wieder in den Beutel zu stopfen, als ich spürte, wie etwas in die Tasche meines Overalls geschoben wurde. Aus dem Augenwinkel erhaschte ich einen kurzen Blick auf einen vertrauten dunklen Haarschopf, dann war Stefan verschwunden. Mein Herz klopfte in freudiger Erwartung – endlich wieder eine Nachricht. Ich konnte es kaum erwarten, sie zu lesen. Aber bevor ich mich wegschleichen konnte, hörte ich Vater mit Robbie auf mich zukommen.
» Großartige Sache, alter Knabe « , sagte Vater gerade. » Hervorragender moralischer Ansporn. Wie wäre es mit einem kurzen Drink drüben im Haus, bevor Sie aufbrechen? Die Sonne geht bald unter. Grace würde sich bestimmt freuen, Sie zu sehen. «
Robbie blickte zum Himmel und dann auf seine Uhr. Ich rechnete fest damit, dass er ablehnte und sich mit der bald einbrechenden Dunkelheit und der Sperrstunde entschuldigen würde, doch ich täuschte mich. » Es wäre mir ein großes Vergnügen, die charmante Mrs. Verner wiederzusehen und ein bisschen mehr Zeit mit Ihrer reizenden Tochter zu verbringen « , sagte er glatt und lächelte mich selbstgefällig an.
» Ich komme gleich rüber « , versprach ich und zwang mich zu einem Lächeln. » Muss nur noch kurz etwas im Büro erledigen. « Stefans Nachricht lautete: Können wir uns treffen? Selber Ort. Um Mitternacht?
Mein Herz fing an zu rasen. Freude wich Angst. Warum wollte er mich treffen? Bloß weil er mich vermisste oder aus einem anderen Grund? Vielleicht wollte er Westbury verlassen oder sich einen anderen Job suchen. Oder er hatte sich zum Kriegsdienst gemeldet und war angenommen worden. Zwischenzeitlich hatten wir gehört, dass viele, die vor den Nazis aus Deutschland geflohen waren, sich der britischen Army als Freiwillige zur Verfügung stellten. Meine Fantasie ging mit mir durch, und das Warten wurde zu einer Quälerei. Der » kurze Drink « zog sich in die Länge, da Robbie und Vater sich nicht nur über die Produktion, sondern ausführlich über Politik und den Krieg unterhielten. Ich gab vor, höflich zuzuhören, und saß wie auf Kohlen. Wartete nur darauf, dass Robbie endlich ging. Und als es fast so weit war, lud Mutter ihn doch tatsächlich zum Abendessen ein.
» Ich sollte mich lieber auf den Weg machen, Mrs. Verner « , sagte er, stand auf und stellte sein Glas ab. » Bevor es vollkommen dunkel ist. Muss vor der Sperrstunde zu Hause sein. «
» Aber nein « , antwortete sie und sah bedeutungsvoll zum Fenster. » Sie können auf keinen Fall mehr ohne Licht fahren. Dafür ist es viel zu spät. Bleiben Sie lieber, ein Bett für die Nacht
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