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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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Schicht heimgeschickt « , sagte sie. » Und du sollst auch nach Hause gehen. Dein Vater wünscht es so. «
    » Nein « , schrie ich ungläubig. Das geschah alles viel zu schnell.
    » Ab morgen arbeitest du an den Jacquardmaschinen « , fuhr sie fort. » Helen übernimmt deine Arbeit hier. Es tut mir so leid, Lily. Ich konnte nichts dagegen tun. «
    Die Jacquardmaschinen, auf denen Motive für Militärkrawatten gewebt wurden, standen am anderen Ende der Weberei. So lief das also. Vater war der Richter, und Gwen musste sein Urteil vollstrecken. Plötzlich kam sie mir vor wie ein Henker, der meine Liebe tötete. In diesem Moment war es endgültig vorbei mit meiner Fassung.
    » Es tut dir nicht leid « , brüllte ich sie an. » Du hättest ihn umstimmen können. Wir sind erwachsen, weißt du! Ihr müsst uns nicht trennen wie ungezogene Kinder. «
    Sie wollte etwas sagen, doch ich ließ sie nicht zu Wort kommen.
    » Streit es nicht ab. Du hast erreicht, was du die ganze Zeit wolltest, oder? Du kannst es nicht mit ansehen, wenn irgendjemand glücklich ist. Und dass irgendjemand liebt, wie normale Menschen das tun. «
    Schockiert riss sie die Augen auf, und ihr Gesicht wurde aschfahl. Ich hatte eine Grenze überschritten, aber es war mir gleichgültig. Mir war alles egal.
    » Um Himmels willen, Lily. So ist das nicht « , fing sie an, doch ich lief einfach davon und stürmte den Seitengang hinunter.
    » Vergiss deine Gasmaske nicht « , rief sie mir nach.
    » Zum Teufel mit der verdammten Gasmaske! « Inzwischen reagierte ich völlig hysterisch. » Wen kümmert es schon, wenn ich sterbe? «
    Ich hörte erst auf zu rennen, als ich die Bahnlinie an der Grenze der Flussauen überquert hatte. Der graue Nieselregen durchnässte rasch meinen Overall und vermischte sich mit den Tränen, die noch immer ungehindert über meine Wangen rannen. Jeder Schritt verursachte in dem aufgeweichten Boden ein schmatzendes Geräusch, das ich nur am Rande wahrnahm. Zornige, bittere Gedanken rasten durch meinen Kopf. Sie gab vor, meine Freundin zu sein, zog mich ins Vertrauen und schlug sich dann auf die andere Seite. Warum behandelten uns alle, als seien wir Kinder? Und überhaupt, wieso nahmen alle sich das Recht heraus, uns etwas vorzuschreiben? Das war ganz allein Stefans und meine Sache. Es ging schließlich um unser Leben.
    Während ich über die morastigen Wege stapfte, beruhigte ich mich langsam und begann nachzudenken. Um zusammen zu sein, mussten wir Westbury verlassen. Nur wie und wohin? Vielleicht nach Schottland oder nach Amerika, bis der Krieg vorbei war. Gelegenheitsjobs annehmen, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Oder sollten wir uns freiwillig beim Roten Kreuz melden und gemeinsam an die Front gehen, selbstlose Tapferkeit demonstrieren? Ohne Rücksicht auf unsere eigene Sicherheit unseren tapferen Jungs helfen?
    Pläne zu schmieden half, selbst wenn sie sich kaum oder gar nicht umsetzen ließen. Das größte Problem bestand darin, dass Stefan keine Papiere besaß, mit denen er das Land verlassen konnte. Trotzdem wuchs mein Optimismus mit jeder neuen Idee, und als nach einer Weile der Nieselregen aufhörte und die Sonne durch die Wolken brach, um die Hügel ringsum in ein verheißungsvolles Licht zu tauchen, fühlte ich mich irgendwie bestätigt und getröstet und machte mich mit neuer Entschlossenheit auf den Rückweg. Ich würde eine Möglichkeit finden, ihn weiterhin zu treffen – dann konnten wir gemeinsam überlegen, ob wir nicht trotz aller Hindernisse fliehen konnten. Sie würden es noch bereuen, dachte ich rachsüchtig.
    Zurück im Haus fand ich Mutter am Küchentisch sitzen, einen ungeöffneten, an John adressierten Brief in der einen Hand, in der anderen ein schon feuchtes Taschentuch.
    Sie blickte mich mit roten Augen an. » Das ist er, Lily. Sein Einberufungsbescheid. «
    Ich zog mir einen Stuhl heran und legte die Arme um sie.
    » Was sollen wir nur ohne ihn tun? « , schluchzte sie.
    » Wir werden es schaffen, Mutter. Menschen wachsen in schwierigen Situationen über sich hinaus, weißt du « , sagte ich leise und versuchte mich selbst davon zu überzeugen.
    » Aber was ist, wenn er getötet wird? Im letzten Krieg sind Tausende gestorben. «
    Nicht Tausende, Millionen, dachte ich. Es gab keine Worte des Trostes. Wir hielten einander im Arm und weinten leise vor uns hin. Schließlich richtete sie sich auf, wischte sich die Augen und atmete tief ein.
    » Entschuldige, Lily. Ich muss mich zusammenreißen « ,

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