Das Kastanienhaus
zwei Tage später zum sonntäglichen Mittagessen kamen, reichte er mir ein Buch. » Danke fürs Ausleihen, Miss Lily « , sagte er höflich. » Mir hat besonders das Kapitel gefallen, in dem der vermisste Mann gefunden wird. « Ich dankte ihm, und das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich das Buch zurück ins Regal stellte.
Nachdem alle zu Bett gegangen waren, dachte ich fieberhaft nach, welches Kapitel er gemeint haben könnte, und fand schließlich einen Zettel. Donnerstagabend, 10 Uhr. S.
Die Warterei war unerträglich. Wenn wir uns zufällig in der Fabrik trafen, mied er meinen Blick, und so blieb ich die nächsten Tage allein mit meinen Fragen, meinen Sorgen und meinen Zweifeln. Doch jedes Mal, wenn ich ihn sah, wurde mir schlecht vor Sorge. Warum hatte er um ein Treffen gebeten und benahm sich gleichzeitig so abweisend? Würde er mir eine Gelegenheit geben, ihm alles zu erklären, oder wollte er bloß einen Schlussstrich ziehen?
Endlich war der Donnerstagabend gekommen, Ich schlich mich leise die Treppe hinunter, mied die knarrenden Holzdielen und huschte durch die Hintertür hinaus. Es war Mitte Februar und entsprechend kalt. Der Mond stand nur als schmale Sichel am Himmel, doch ein Meer von Sternen erhellte die Nacht. Binnen Sekunden hatte ich die Streuobstwiese überquert und erreichte die Tennishütte. Das Erste, was ich sah, war das rote Glimmen einer Zigarette. Es wies mir den Weg zu Stefan.
Er wartete draußen auf mich, saß auf einer alten Orangenkiste und kuschelte sich in seinen Kamelhaarmantel und einen dicken Schal. Als er aufsah, wirkte sein Gesicht wie ein blasser Halbmond in der Dunkelheit. Ich schloss die Tür auf, und wir gingen hinein, zündeten eine Kerze an und setzten uns, ohne einander zu berühren, auf die alte Gartenbank.
» Zigarette? « , fragte er.
Er vermied es, mir im flackernden Licht der Streichholzflamme in die Augen zu sehen, und für eine Weile saßen wir bloß schweigend nebeneinander, rauchten und bliesen stumm Wölkchen in die kalte Luft.
» Stefan « , sagte ich ruhig, » geht es dir wirklich gut? «
» Was glaubst du denn? « , murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen.
» Ich denke, dass du etwas missverstanden hast. Warum Robbie in jener Nacht im Kastanienhaus übernachtete « , sagte ich und versuchte mich vorsichtig an die Frage heranzutasten, was er gesehen hatte und was nicht.
Er zog nachdenklich an seiner Zigarette. » Du hast mich angelogen « , sagte er verbittert.
» Nein « , rief ich laut. » Sieh mich an « , flüsterte ich dann leise und wartete, dass er endlich den Blick hob. » Zwischen mir und Robbie ist nichts. Überhaupt nichts. Meine Eltern haben ihn eingeladen, über Nacht zu bleiben. Wegen der Sperrstunde. «
Stefan wandte sich ab, rauchte schweigend weiter.
» In jener Nacht hat er mich erwischt, wie ich mich aus dem Haus schlich. War angeblich draußen, um nach seinem Auto zu sehen. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Jedenfalls stand er an der Hintertür und behauptete, er hätte dich gesehen. Drohte damit, es Vater zu erzählen. Da konnte ich nicht mehr weg. Wirklich. Ich lüge dich nicht an, das schwöre ich. «
Er schwieg, und am liebsten hätte ich ihn geschüttelt.
» Stefan? Sag etwas! «
Schließlich flüsterte er: » Ich habe gesehen, wie ihr euch geküsst habt, und dachte, ich müsste kotzen. «
Jetzt war es raus, und ich überlegte, wie ich sein Vertrauen zurückgewinnen konnte.
» Hör mir zu, Stefan. Du musst mir glauben, was ich dir jetzt erzähle. «
» Wie kann ich das noch? « , sagte er traurig.
» Es ist richtig, was du gesehen hast, und auch wieder nicht. Robbie drohte mir, und hat mich wie in einem Schraubstock festgehalten und mich geküsst. Es war ekelhaft. Und ich hatte ebenfalls das Gefühl, kotzen zu müssen. Aber er ließ mich nicht los. «
Eine lange Stille trat ein. Stefan warf seine Zigarette auf den Fußboden und trat sie aus, obwohl wir ansonsten sehr bedacht darauf waren, keine Spuren zu hinterlassen, die uns verraten könnten.
» Woher soll ich wissen, ob du die Wahrheit sagst? « Ich schaute ihn an und bemerkte, dass seine Augen verräterisch glänzten und sein Gesicht schrecklich unglücklich aussah. Ich beschloss, alles auf eine Karte zu setzen, drehte sein Gesicht zu mir herum und küsste ihn zärtlich auf den Mund. Seine Lippen blieben zunächst hart und abweisend, doch nach einer Weile begann er meinen Kuss zu erwidern.
» Ich liebe dich « , sagte ich, als wir aufhörten. » Du glaubst mir,
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