Das Kastanienhaus
Fußmarsch erspart blieb. Ich ergatterte einen Platz auf dem Oberdeck.
Als wir ins West End kamen, brach die Sonne zwischen den Wolken hervor. Die Platanen waren grün, und Hunderte Menschen vergnügten sich in den Parks. Männer arbeiteten in neu angelegten Schrebergärten, Familien spielten, Soldaten waren mit ihren Mädchen unterwegs, und Büroangestellte verbrachten ihre Mittagspause im Freien. Alle genossen den schönen Sommertag. Silberne Sperrballons glitzerten im Sonnenschein wie riesige abstrakte Kunstwerke. Es machte mir Hoffnung, dass London trotz der Bomben und der schweren Zerstörungen weiterlebte und seine Bewohner nicht grau und trübsinnig wirkten.
Das bei Kriegsausbruch neu geschaffene Ministerium zur Sicherstellung der Versorgung war im Shell Mex House, einem palastartigen Gebäude im Art-déco-Stil, am Nordufer der Themse untergebracht. Trotz der Sandsäcke am Eingang und der Klebestreifen für die Verdunkelungsrollos an allen Fensterscheiben wirkte es für ein Kleinstadtmädchen wie mich ausgesprochen glamourös. Und ganz bestimmt nicht wie ein Büro. Der wachhabende Soldat lächelte mir freundlich zu, als ich ihm meine Visitenkarte zeigte, und ließ mich ein.
In der Eingangshalle stützten gewaltige Säulen aus vielfarbigem Marmor die Stuckdecke mit den typischen Ornamenten des Art déco. Ein riesiger Kronleuchter aus Kristall erfüllte den Raum mit schimmernden Lichtfunken und ließ sogar die auf Hochglanz polierten Uniformknöpfe des Türstehers glitzern. Ich ging die geschwungene Treppe hinauf, deren Messinghandlauf so makellos glänzte, dass ich ihn aus Angst, Fingerabdrücke zu hinterlassen, nicht berührte. Stattdessen betrachtete ich die Porträts der würdevollen Gentlemen, die aus ihren prunkvollen Goldrahmen hochmütig auf mich herabschauten.
Die Treppe führte in einen leeren rechteckigen Raum von der Größe eines halben Tennisplatzes, der mit einem dunkelroten, mit kleinen gelben Muscheln durchsetzten Teppich ausgelegt war. Heller Sonnenschein fiel durch fünf hohe Fenster auf der gegenüberliegenden Seite und ließ jedes Stäubchen sichtbar werden. Ich schlenderte zu einem der Fenster und schaute zum Fluss hinüber, der so ruhig dahinfloss, als gäbe es keinen Krieg, keinen Tod und keine Zerstörung.
Die Vorhänge wiesen das gleiche Muster auf wie der Teppich, und ich hatte gerade begonnen den Jacquardstoff näher zu betrachten, als hinter mir eine laute Stimme ertönte: » Wir brauchen Tee und Kaffee, Miss. Und zwar schnell. « Ich blickte auf und sah einen Gentleman mit Stirnglatze in einem zu engen Dreiteiler, der auf den langen Tisch am anderen Ende des Raums deutete, auf dem grüne Tassen und Untertassen auf einem weißen Tischtuch standen.
Überrascht stotterte ich: » Es tut mir leid. Ich weiß wirklich nicht … «
» Na, dann gehen Sie mal und finden es heraus. Unsere Gäste werden bald eintreffen « , kommandierte der Mann herrisch. Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging ins Nebenzimmer.
Ich wollte ihm gerade hinterher, um das Missverständnis aufzuklären, als eine junge Frau mit einem Rollwagen erschien und Tee- und Kaffeekannen auf den Tisch stellte. Ihr folgten wenig später an die zwanzig Männer, Militär und Zivil, die sehr wichtig und bedeutend taten.
Es schien sich um drei Gruppen zu handeln. Da waren zum einen die Herren in teuren Nadelstreifenanzügen, bei denen es sich vermutlich um die Repräsentanten der verschiedenen Vertragsfirmen handelte. Dann die Air-Force-Offiziere in ihren eleganten graublauen Uniformen, bei denen mir vor allem die bombastischen Schulterstücke auffielen, und schließlich die Vertreter der Army in Khaki mit Unmengen von Gold.
Ich strich den Rock glatt und ging lässig, aber mit festem Schritt zum Tisch hinüber, goss mir eine Tasse Kaffee ein, der wie Spülwasser aussah, und schob mich vorsichtig in eine Lücke zwischen zwei Nadelstreifenträger. Sie waren so sehr in ihre Unterhaltung vertieft, dass die meisten mich kaum zu bemerken schienen, nur ein jüngerer Mann mit bunt gestreifter Krawatte lächelte mich freundlich an.
» Hallo « , sagte er. » Ich glaube nicht, dass wir uns schon begegnet sind. «
» Ich bin Lily Verner « , sagte ich und erwiderte sein Lächeln. » Verner’s & Sons. «
» Aha « , sagte er ein wenig verwirrt. » Ich glaube, wir beliefern Sie mit Garn. Michael Merrison. Freut mich, Sie kennenzulernen. « Seine Hand war groß und warm.
Die anderen schauten mich befremdet an,
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