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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Trenow
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murmelten Unverständliches, gaben mir nacheinander die Hand und nahmen nach einer kurzen, unbehaglichen Pause ihre Gespräche wieder auf.
    » Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen allen so geht, aber die Wehrpflicht bereitet uns jede Menge Probleme « , sagte einer. » Mir sind bloß alte Knaben und Frauen geblieben. «
    » Verdammt schwer, heutzutage gute Leute zu finden « , stimmte ein anderer zu.
    Die Unterhaltung ging in diesem Tenor weiter und ärgerte mich zusehends. Was sollte dieses pauschale Urteil, das nicht nur unfair, sondern auch falsch war.
    » Das sehe ich völlig anders « , hörte ich mich sagen und konnte kaum glauben, dass diese resolute Stimme tatsächlich meine war. » Die alten Knaben, wie Sie sie geringschätzig nennen, haben jede Menge Erfahrung, und Frauen verfügen über eine rasche Auffassungsgabe und großes motorisches Geschick, das gerade in der Weberei ein Riesenvorteil ist, meinen Sie nicht auch? «
    Die Herren in Nadelstreifen sahen einander verwundert und leicht ungläubig an, waren offensichtlich befremdet von meinem Einwand und wussten nicht, wie sie darauf reagieren sollten. Nur der junge Mr. Merrison grinste amüsiert. Bevor das Schweigen peinlich wurde, bat eine laute Stimme in den Konferenzsaal.
    Die Army- und Air-Force-Offiziere gingen ganz selbstverständlich und zielstrebig zu bestimmten Plätzen an dem langen, ovalen Mahagonitisch – vermutlich saßen sie bei jeder Besprechung genau dort. Als ich schließlich den Raum betrat – immerhin ließen mir die Geschäftsmänner höflich den Vortritt –, sah ich fünf khakifarbene Uniformen auf der einen Seite und sechs graublaue auf der anderen. Die Nadelstreifen schienen ebenfalls Stammplätze zu haben, sodass für mich nur der Platz neben dem korpulenten Sitzungsführer blieb.
    » Ich dachte, Marilyn würde Protokoll führen? « , sagte er und starrte mich verwirrt an, als ich mich setzte.
    » Mein Name ist Lily Verner « , antwortete ich mit einem, wie ich hoffte, verzeihenden Lächeln. In diesem Moment trat von hinten eine junge Frau mit einem Stenoblock in der Hand neben meinen Stuhl, und mir wurde klar, dass sie Marilyn, die Sekretärin, war und ich auf ihrem Platz saß.
    Alle blickten mich neugierig an, und wieder kam mir der nette junge Mann zu Hilfe. Ohne große Umstände erhob er sich und holte einen zusätzlichen Stuhl, den er neben seinen stellte. » Miss Verner, möchten Sie sich vielleicht hierher setzen? « , rief er.
    Ich ging mit brennenden Wangen den ganzen Tisch entlang und nahm Platz, während ich einen Dank murmelte. Er schob mir ein Blatt Papier hin, und ich studierte es sorgfältig. Darauf stand: Agenda. Protokoll der letzten Sitzung. Punkt 1: Lieferung Fallschirmseide. Punkt 2: Lieferung Isolierungsseide. Punkt 3: Andere Geschäftsfelder. Termin der nächsten Sitzung.
    Der korpulente Mann stellte sich als Sir George Markham vor, zuständig für den Einkauf der Fallschirmseide im Ministerium zur Sicherstellung der Versorgung. Die anderen Sitzungsteilnehmer wurden nicht namentlich genannt. Vielleicht kannten sie sich ja alle bereits. Nach meinem Fauxpas mit der Sitzordnung wollte ich nicht schon wieder unangenehm auffallen und um eine allgemeine Vorstellung bitten.
    Weitere Blätter wurden verteilt. Protokoll der Sitzung vom 29. November 1940 stand auf dem Deckblatt. Ich nahm mir ein Exemplar und reichte die anderen weiter.
    Ein Name auf der Teilnehmerliste sprang mir sogleich ins Auge: Mr. Harold Verner. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, denn so unglaublich es klingen mag – ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen und hatte darüber völlig vergessen, dass bei der letzten Sitzung mein Vater noch anwesend war. Bloß einen Monat vor seinem Tod hatte er in ebendiesem Raum gesessen, wahrscheinlich mit denselben Leuten auf denselben Stühlen. Und nicht nur damals, sondern viele Male zuvor.
    Fast konnte ich seine Präsenz fühlen, ihn an diesem Tisch sehen, wie er mit geradem Rücken dasaß, aufmerksam den Diskussionen folgend, seine Stimme ruhig und vernünftig, die Argumentation logisch, auf das Wesentliche reduziert und immer nachvollziehbar. Auf welchem Stuhl hatte er wohl gesessen? Mit wem besonders gut zusammengearbeitet? Du solltest heute hier sein, Vater, nicht ich, dachte ich und fühlte mich mit einem Mal unendlich traurig. Mein Vater würde niemals wieder an diesem Tisch sitzen. Am liebsten hätte ich geweint.
    Eine Hand legte sich auf meine Schulter, und ich hörte die Stimme des netten

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