Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
ihr älterer Halbbruder Enrique und dass man sie nicht so leicht beeinflussen und wie ein unreifes Kind führen konnte.
Er beugte sich vor, sah Isabel an und senkte die Stimme. Dennoch konnte Jimena seine Worte verstehen, und die eisige Härte seines Tonfalls ließ sie erschaudern.
»Soll ich Euch einmal eine Geschichte erzählen, Hoheit Isabel? Vielleicht wäre es klug, aus der Vergangenheit zu lernen, statt die gleichen Fehler wieder und wieder zu begehen.«
»Bitte, ich höre«, gab Isabel ebenso kalt zurück.
Carrillo dachte nach, dann schien er es sich anders zu überlegen und erhob sich. »Ich denke, Ihr kennt die Geschichte bereits«, sagte er. »Ich sage nur so viel: Wenn Ihr Euch weiterhin weigert, Vernunft anzunehmen und meine Ratschläge zu befolgen, dann muss ich Euch wohl so umstimmen, wie es Enrique II. mit seinem Bruder tat!«
Er ging hinaus, während Isabel ihm mit offenem Mund nachstarrte. Jimena schnappte nach Luft. Sie wusste, wie die Familie Trastámara auf den Thron gekommen war. Es war ein erbitterter Krieg Enriques gegen seinen Halbbruder Pedro den Grausamen gewesen, der damit endete, dass einer von Enriques Gefolgsleuten ihn während eines Kampfes überraschend mit Pedro zusammenbrachte und rief: »Da ist Euer Feind!« Und die beiden Brüder gingen mit Messern aufeinander los. Sie wälzten sich in erbittertem Kampf auf dem Boden. Pedro der Grausame gewann die Oberhand, doch da versetzte ihm der Gefolgsmann seines Bruders einen Fußtritt, sodass Enrique wieder nach oben kam. Er zögerte nicht und rammte die Klinge in die Brust seines Bruders. Pedro starb, und Enrique von Trastámara bestieg den Thron.
Jimena nahm die Drohung durchaus ernst. Carrillo hatte seine väterliche Maske fallen gelassen und Isabel gezeigt, was er wirklich war: ein machtgieriger Fürst, der vor keiner Grausamkeit zurückschrecken würde, um an sein Ziel zu gelangen. Vorerst zog er sich beleidigt nach Toledo zurück, doch das war nur das Ende eines Kapitels. Das Buch selbst war noch nicht zu Ende geschrieben. Und noch war die Figur Carrillo nicht entbehrlich. Ja, Carrillo war eine Schachfigur, mit der man rechnen musste – oder war er der Spieler und sie selbst die Figuren auf dem Brett? Jimena runzelte sorgenvoll die Stirn. Die Bilder in ihrem Kopf hatten sich verwirrt. Es war keine klare Linie mehr zu erkennen, und eine strahlende Königin Isabel hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Waren sie am Scheidepunkt angelangt? Konnte die Geschichte doch noch einen anderen Verlauf nehmen? Sie spürte, dass Isabels Zukunft auf Messers Schneide stand und dass das Land an einem Abgrund entlangschwankte, der tiefer und schwärzer war als alles, was es zuvor erlebt hatte.
Kapitel 25
Zwischen Tordesillas und Toro, März 2012
Sie näherten sich Tordesillas. Justus versuchte mehr über Isauras Erbschaft zu erfahren. Er erkundigte sich nach der Größe des Anwesens, der Lage und dem Zustand des Hauses, doch sie blieb bei ihren Auskünften wortkarg. Vielleicht war sie Justus gegenüber ungerecht, doch allein schon durch die Art seiner Fragen hatte sie das Gefühl, er würde alles von einer ganz anderen Warte aus betrachten, sodass er die Schönheit von Haus und Garten, der Ländereien mit der Burgruine und des halb verfallenen Herrenhauses nicht erfassen konnte. Und sie fürchtete, dass sie ihm ihren Standpunkt nicht würde vermitteln können.
Oder wollte sie es erst gar nicht versuchen? Wäre es ihr lieber, wenn dies ganz allein ihre kleine Welt blieb, zu der auch Justus keinen Zutritt hatte?
Wie sollte es weitergehen? Wie konnte sie mit ihm in München in ihrer alten Welt weiterleben und doch auch ein Stück dieser neuen Welt bewahren? Sie würde sich um das Anwesen kümmern müssen. Wie sollte das gehen? Einmal im Jahr kurz nach Kastilien fliegen und das Haus ansonsten leer stehen lassen, die Tür verriegelt, die Fenster von hölzernen Läden verschlossen? Das wäre sein Tod.
Ja, es hörte sich albern an, wenn sie über den Tod eines alten Gehöfts nachdachte, aber so war es. Der Garten würde verwahrlosen, Blumen und Gemüse von Unkraut und Dornenranken überwuchert werden. Nach dem Auszug der Ha sen und Hühner würde auch der Kater verschwinden. Im Haus würde alles mit einer dicken Schicht Staub bedeckt werden, und nichts würde von seiner Atmosphäre übrig bleiben. Wehmut erfasste sie bei dem Gedanken.
Was aber dann? Alles verkaufen oder die Erbschaft doch ablehnen?
Es war ihr, als könne sie Carmens Schmerz
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