Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
erbte.
Kapitel 33
Kastilien, 1475
Jimena hatte wieder einmal dieses Gefühl, im Palast ersticken zu müssen, und es drängte sie, hinauszugehen und forsch auszuschreiten. So hüllte sie sich in ihren unauffälligen grauen Wollumhang, zog die Kapuze über den Kopf und verließ den Alcázar .
Es war ein kalter Abend, und dennoch sog sie die klare Luft tief in sich ein. Sie streifte durch die Gassen der Stadt am Marktplatz vorbei bis zum unteren Stadttor, über dem sich das römische Aquädukt in den düsteren Abendhimmel erhob. Noch immer waren die bei der Rückeroberung der Stadt zerstörten Bogen mehr schlecht als recht mit Holzbalken abgestützt, dass das Wasser ungehindert in die Stadt fließen konnte. Jimena blieb stehen und betrachtete das verwundete Bauwerk. Sie erinnerte sich wieder, wie sie das Aquädukt als Kind zum ersten Mal gesehen hatte und an das Bild, das in ihr aufgestiegen war. Wenn Isabel einst Königin sein sollte, würde sie die Steinbogen wieder aufrichten lassen!
Ja, bestimmt, doch im Moment hatte die junge Königin andere Probleme. Sie musste ihr zerstrittenes Reich einen, eine Mehrheit des Adels für sich gewinnen, eine schlagkräftige Armee aufbauen, auf die sie sich würde verlassen können, das marode Steuersystem ändern – oder zumindest dafür sorgen, dass mehr als nur ein winziger Bruchteil der Steuern in der Staatskasse landete! Der größte Teil versickerte in den Taschen der Granden, deren raffgierige Familien im Laufe der Jahrhunderte immer größere Anteile für sich behalten durften – für Dienste, die sie ihrem König geleistet hatten, oder einfach so, damit sie nicht die Seiten wechselten.
Nein, die steinernen Bogen von Segovias Aquädukt würden noch eine Weile warten müssen, doch irgendwann, dachte Jimena voller Zuversicht, sollten sie wieder in ihrer ganzen Pracht erstrahlen können.
Sie machte sich auf den Rückweg und wählte die Gassen durch die Judería. Täuschte sie sich, oder herrschte hier weniger Leben in den Straßen als früher? Die Gemeinde hatte sich von den herben Verlusten noch nicht erholt, und vielleicht zogen sich die Überlebenden nun in den – vermeintlichen – Schutz ihrer Häuser und Synagogen zurück.
Noch in ihre Gedanken versunken, ging Jimena weiter in Richtung Palast. Sie überquerte gerade den Platz vor der Kathedrale, als sie eine Gestalt ausmachte, deren Anblick ihr Herz höher schlagen ließ und ein Lächeln in ihr Gesicht zauberte. Die düsteren Gedanken waren vergessen, als sie auf Ramón zueilte.
»Wie unerwartet und schön, dich hier zu treffen!«, be grüßte sie ihn und griff nach seiner Hand, um sie an ihre kalte Wange zu legen, doch ein Blick in sein Gesicht ließ sie in der Bewegung erstarren.
»Was ist geschehen?«
Ramón hob hilflos die Arme und ließ sie dann wieder fallen. »Ich bin verwirrt und außer mir und weiß mir keinen Rat.« Sein Blick wanderte zu den Türmen der Kathedrale, als erhoffe er sich Hilfe von der Kirche.
»Was ist denn geschehen?«, fragte Jimena noch einmal.
»Das fragst du?«, gab er heftig zurück. »Das müsstest du am allerbesten wissen. Die Schwester des Königs hat sich die Krone aufgesetzt, die ihr nicht zusteht, und Juana um ihr Erbe betrogen!«
Jimena unterdrückte einen Seufzer und bemühte sich, seinen Tonfall nicht aufzunehmen. »Du weißt, dass das so nicht richtig ist. Der König hat seine Schwester als seine Erbin eingesetzt, ehe er Segovia verließ, und dies auf seinem Sterbebett nicht widerrufen.«
»Sagt wer? Kardinal Mendoza?«
Jimena nickte. »Ja, er war bei ihm, bis zu seinem letzten Atemzug.«
»Das ist ja möglich«, gab Ramón scharf zurück, »dennoch heißt das nicht, dass er die Wahrheit spricht. Er will Isabel auf dem Thron sehen – warum auch immer.«
»Kardinal Mendoza fragte den König, ob Juana seine Tochter sei, doch der König schwieg.«
»Da habe ich anderes gehört!«, widersprach Ramón.
»Von wem?«
»Graf Palencia, der ebenfalls im Palast von Madrid weilte. Er sagt, die letzten Worte des Königs waren: ›Ich erkläre meine Tochter zur Erbin des Königreichs!‹«
Jimena und Ramón sahen einander an. Er wirkte müde, ausgelaugt und erschöpft.
»Und was wirst du jetzt tun? Vermutlich werden wir die Wahrheit niemals zweifelsfrei wissen. Aber ist es denn so wichtig? Isabel wird dem Land eine gute Königin sein. Können wir ihr nicht einfach vertrauen und sie dabei unterstützen?«
Ramón wirkte traurig, doch er schüttelte den Kopf. »Ich kann
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