Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Spaniens goldenes Zeitalter.
Und hatte sie nicht immer wieder Dinge im Traum gesehen, die dann plötzlich wahr geworden waren? Sie hatte nie mit jemandem darüber gesprochen. Vermutlich hatte sie schon als Kind geahnt, dass man ihr keinen Glauben schenken würde. Oder hatte sie diese wundervolle Gabe ganz allein für sich behalten wollen?
War es denn eine wundervolle Gabe? Isaura war sich nicht sicher. Was, wenn sie den Tod gesehen hätte? Wenn sie der alten Frau ihre Hoffnung hätte stehlen müssen. Hätte sie den Mut aufgebracht, ihr die Wahrheit zu sagen? Isaura wusste es nicht.
Es war bereits Mittag, als Isaura das Krankenhaus erreichte. Sie hatte hin und her überlegt, wie sie nach Valladolid kommen sollte. Den freundlichen Anwalt noch einmal um Hilfe zu bitten scheute sie sich. Und ganz sicher würde sie sich auch nicht an den Comisario wenden. Ein Taxi? Nein, auf Dauer wurde das zu teuer. Ein neuer Mietwagen? Doch woher einen nehmen? In Tordesillas gab es vermutlich keine Autovermietung. Wenn, dann musste sie sich in Valladolid umsehen, wobei sie wieder am Anfang ihrer Überlegung angelangt war: Wie kam sie jetzt dorthin?
Isauras Blick blieb an dem Wagenschlüssel hängen, der in einer Keramikschale in der Küche lag. Er gehörte sicher zu dem alten Auto im Schuppen draußen. Ein Oldtimer, der Justus sogar Worte der Anerkennung entlockt hatte – auch wenn der natürlich nicht darauf verzichten konnte, den schlechten Zustand des Sammlerstücks zu bemängeln. Ob dieser Wagen aus den Sechzigerjahren wohl noch fahrtüchtig war?
Nun, das sollte sie doch herausfinden können! Isaura griff sich den Schlüssel und ging zum Schuppen hinüber. Es kostete sie einige Kraftanstrengung, bis sie die beiden Tore offen hatte, die sich nur widerstrebend in ihren verrosteten Angeln bewegen ließen. Mit einem alten Tuch wischte sie den Staub von der Motorhaube und dem Kofferraum des Wagens, dessen Lackfarbe sich daraufhin als dunkelrot entpuppte. Das Stoffverdeck, das zahlreiche schlammige Abdrücke von Katzenpfoten zierte, wirkte brüchig und hatte einen Riss. Isaura beschloss, es lieber gleich zu öffnen, ehe es während der Fahrt zu einem Unglück kam. Nein, von Unglücken hatte sie genug!
Sie rückte auf die Fahrerseite der vorderen Sitzbank, in der sie wie in einem gemütlichen Sofa versank. Irritiert sah sie sich um. Das Auto besaß zwar ein Kupplungspedal, doch wo zum Teufel war der Schalthebel? Ganz dunkel erinnerte sie sich, dass Justus ihr irgendwann etwas von Lenkradschaltung bei Oldtimern erzählt hatte.
»Es ist mein Auto, und ich werde es fahren, wenn es noch funktioniert!«, sagte sie streng zu sich selbst, um sich Mut zu machen. Sie trat auf Bremse und Kupplung und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Das Auto hickste und begann protestierend zum Leben zu erwachen. Mit einem Röhren sprang der Motor tatsächlich bereits nach wenigen Sekunden an. Isaura mühte sich ein wenig mit der ungewohnten Gangschaltung ab, dann hatte sie den ersten Gang gefunden und holperte mit heulendem Motor aus dem Schuppen. Langsam tuckerte sie über den Hof und bog dann in den Feldweg Richtung Straße ein. Das konnte ja heiter werden. Mal sehen, ob sie und der Wagen die Fahrt bis Valladolid unbeschadet überstanden!
»Natürlich schaffen wir das«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und bog auf die Landstraße ein. »Ich kann das, und das Auto ist noch ganz wunderbar in Form. Wenn es die letzten fünfzig Jahre durchgehalten hat, dann kann es auch für mich noch ein wenig funktionieren!«
Und als habe der alte Wagen sie verstanden, glitt er zufrieden schnurrend wie ein Kater auf dem glatten Asphaltband dahin, das vermutlich zu dem Netz neuer, großzügig angelegter Straßen gehörte, die dank EU -Geldern ganz Spanien durchzogen.
Als Isaura am vierten Tag nach dem Unfall das Krankenzimmer betrat, war ihr Stuhl vor dem Bett bereits besetzt. Ein Gefühl von Übelkeit stieg in ihr auf, und sie hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre davongelaufen, doch sie zwang sich, zu bleiben und die Frau wenigstens mit einem Hauch von Höflichkeit zu begrüßen.
»Guten Tag, Sandy«, sagte sie steif und berührte kurz ihre Hand.
»Isaura, ich habe mich schon gefragt, wann Sie endlich hier auftauchen«, gab die andere mit einem Hauch von Vorwurf zurück.
Isaura unterdrückte den Impuls, darauf hinzuweisen, dass sie die vergangenen Tage kaum von Justus’ Bett gewichen und heute Morgen noch einmal zum
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