Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
verursacht. Sie war schuld!
Aber wie sollte so etwas möglich sein? Sie hatte schließlich nicht während der Fahrt mit einem Brecheisen oder einem anderen Gegenstand die Scheiben zertrümmert! Wie konnte man allein durch die Kraft seiner Gedanken – nein, seiner Verzweiflung – eine Autoscheibe sprengen? Das war einfach nicht möglich!
Ach nein? Das war wieder die Stimme der alten Frau. Du weißt es besser! Wie viele zersprungene Gläser hast du in deinem Leben schon zusammengefegt?
»Ich bin eben ein wenig schusselig.«
Ach, du hast sie fallen lassen oder heruntergestoßen? War es so? Die Stimme ließ nicht locker. Und ehe Isaura zugeben musste, dass sie meist nicht einmal in der Nähe der zerbrochenen Gläser gewesen war, lenkte sie ihre Gedanken lieber in eine andere Bahn.
Mercedes, ihre junge Nachbarin, und ihr seltsames Anliegen kamen ihr in den Sinn. Ihr Besuch bei der alten Frau.
Nein, das war auch nicht gut. Das führte sie in eine noch schlechtere Richtung. Eine vielleicht noch gefährlichere, als zerbrechende Gläser es taten. Noch hatte sie es vermeiden können, darüber nachzudenken, was in der Schlafkammer der alten Nachbarin vorgefallen war.
War denn etwas vorgefallen? Sie hatte die Kranke lediglich beruhigt und ihr neuen Mut gegeben. Isaura hatte behauptet, Maria Pilar müsse noch nicht sterben, obwohl der Arzt genau das prophezeite. Und damit war der Lebenswille der alten Frau gestärkt worden; sie hatte wieder Mut gefasst, um gegen die Schwäche ihres Körpers anzugehen. Das war alles. Gelang es Menschen nicht auch, mit Mut und Zuversicht Krebs und andere Krankheiten zu besiegen, selbst wenn die Ärzte ihnen keine Chancen mehr einräumten?
Ja, so etwas gibt es, doch das ist nicht der entscheidende Punkt. Du hast es gespürt und in ihre Zukunft gesehen! Leugne es nicht. Du warst dir ganz sicher, und das zu Recht. Du wirst es erleben. Es wird so kommen, wie du es erkannt hast.
Isaura leerte das Glas in einem Zug und schenkte sich rasch wieder nach.
Du weißt, dass du mich so nicht vertreiben kannst. Die Stimme schwankte zwischen Ärger und Belustigung.
Die einzige Möglichkeit, die du hast, ist, dich endlich zu öffnen und es zuzulassen. Dann wirst du deinen Frieden finden.
»Ich lasse überhaupt nichts zu!«, knurrte Isaura und hörte selbst, dass der Wein zu wirken begann und ihre Zunge lähmte. Sie würde sich nicht irremachen lassen. Sie würde weder über Justus noch über den Unfall, weder über Sandy noch über ihre Nachbarin weiter nachdenken! Nein, diese Nacht würde sie sich nicht auch noch von ihnen rauben lassen.
Isaura zog das Buch der Caminata heran und suchte die Stelle, an der sie das letzte Mal aufgehört hatte. Königin Isabella und ihr Gatte Ferdinand, der Erbfolgekrieg, Verräter und Gefolgsleute. Ja, das war ein ungefährliches Terrain, auf das sie sich mit sicherem Schritt begeben konnte. All das war lange her, hatte sich im fünfzehnten Jahrhundert in Spanien ereignet und konnte daher nichts mit ihr zu tun haben. Und so tauchte sie beherzt in die Vergangenheit ein, während die Stunden verrannen und eine silberne Mondsichel über den wolkenlosen Nachthimmel von Kastilien wanderte.
Kapitel 35
Toledo, 1475
Ihr Besuch beim Marquis de Santillana in Guadalajara ließ noch einmal einen Hauch von Feststimmung aufkommen. Der Marquis empfing Isabel und ihr Gefolge in seinem prächtigen Stadtpalast unweit der Ruinen der alten Maurenfestung, die an die früheren Herrscher erinnerten, aus deren Händen Alfons VI. – nach dem Meuchelmord an seinem Bruder Sancho – die Stadt befreit hatte. Nun gehörte Guadalajara zu den umfangreichen Besitztümern der Mendozas, was der Marquis mit seinem pompösen Empfang eindrucksvoll demonstrierte.
Isabel genoss seine Aufmerksamkeiten, doch es waren nicht die Zeiten, um zu feiern und die Welt zu vergessen, daher mahnte sie nach wenigen Tagen zum Aufbruch. Gegen ihre Überzeugung war sie auch auf Fernandos Drängen hin bereit, den ersten Schritt zu tun und Carrillo auf seinen Gütern zu besuchen, um versöhnlich mit ihm zu sprechen.
Beatriz stöhnte. »Nicht schon wieder packen und in den Sattel. Lange mach ich das nicht mehr mit! Wann kehrt denn endlich Ruhe ein?«
Jimena legte den Arm um sie. »Das wird nicht so schnell geschehen. Isabel steht vielleicht vor ihrer größten Herausforderung, die sie bis an ihre Grenzen führen wird, und niemand kann sagen, ob sie es überstehen wird.«
Beatriz starrte sie erschrocken an. »Was?
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