Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Jimena noch niemals belogen, dennoch wünschte sie sich heute, sie würde es tun.
»Unsinn, mein Kind«, widersprach Dominga. »Die Wahrheit ist immer besser als eine Lüge. Du kannst es schaffen, wenn du deinen Sinnen vertraust und überlegt handelst. Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen. Die große Politik ist nicht deine Sache. Noch nicht. Im Augenblick musst du Isabel dienen und die Augen offen halten, mehr nicht. Alles andere wird auch ohne dein Zutun dem Weg seines Schicksals folgen. Und außerdem werde ich Ramón bitten, ein Auge auf meine Mädchen zu haben, damit ihnen nichts geschieht.«
Beim Gedanken an ihren Cousin hellte sich ihre Miene ein wenig auf. Doch dann stutzte sie. »Du willst Teresa auch hierlassen? Tu das nicht. Das ist kein Ort für sie.«
Domingas Lippen wurden zu einem Strich und drückten deutlich ihren Unmut aus. Weil Jimena recht hatte, oder weil sie an der Entscheidung ihrer Tante zweifelte?
»Ich kann sie nicht mitnehmen. Wer sollte sich in Arévalo um sie kümmern? Du weißt selbst, dass sich der Zustand der Königin verschlechtert. Ich werde viel Zeit an ihrer Seite verbringen müssen. Nein, Teresa ist bei dir besser aufgehoben.«
Das stumme Mädchen, das den Wortwechsel aufmerksam verfolgt hatte, nickte und trat an Jimenas Seite. Vertrauensvoll schob sie ihre Hand in die der Cousine. Würde sie dieses Vertrauen jemals enttäuschen? Jimena lauschte in sich hinein, doch zu ihrer Beunruhigung konnte sie keine Antwort auf diese Frage finden. Und so reiste Dominga ab und ließ die Mädchen am Hof von König Enrique zurück.
Bald schon hatte Jimena Gelegenheit, den König, der so gar nicht ihrer Vorstellung entsprach, näher kennenzulernen. Bei Hof war ein ständiges Kommen und Gehen, und Jimena war von der Vielzahl der Leute verwirrt, deren Namen sie meist nicht einmal kannte. Sie wusste nicht, woher sie kamen, was sie hier zu suchen hatten und was sie den ganzen Tag über taten. Am Abend jedoch lud der König alle seine Gäste zu Speis und Trank in den großen Saal, den man auch den Galeerensaal nannte, nach der hölzernen Decke, die an einen umgedrehten Schiffsrumpf erinnerte. Katharina von Lancaster, Enriques Großmutter, hatte ihn hier einbauen lassen. Der alte Saal war ihr vielleicht nicht prächtig genug gewesen oder der Palast überhaupt zu klein, sodass sie den Bau erweitern und umgestalten ließ. Die alte Halle schloss sich noch immer auf der Nordwestseite des großen Hofs an, nur dass ihre spitzbogigen Doppelfenster nun nicht mehr über das Tal des Río Eresma hinauszeigten, sondern hinüber in den daneben erbauten Galeerensaal, an den sich in Richtung Nordosten, auf die Spitze der Burg zu, der prächtigste Saal des Palasts und dann die Gemächer des Königspaars anschlossen, die Jimena natürlich nicht zu Gesicht bekam.
Nach dem Essen, wenn die Tafel abgetragen war, ließen sich die Gäste auf den prächtig bestickten Polstern und Kissen der Diwane nieder, die sich entlang der Wände reihten, tranken, fütterten sich gegenseitig mit Süßigkeiten, scherzten und ließen sich von des Königs Musikern oder anderen Künstlern, die zu Gast bei Hof waren, unterhalten.
Isabel hielt sich stets ein wenig von den anderen fern, und das war Jimena nur recht. So saßen die vier Mädchen meist auf einem Diwan nahe der Tür und beobachteten mit wachem Blick, was im Saal des Königs vor sich ging. Die Sitten erstaunten sie, und sie stießen sowohl Isabel als auch Jimena ab, die im Sinne strenger Moral erzogen worden waren. Je mehr die Nacht vorrückte und je mehr Wein durch die Kehlen floss, desto ausgelassener wurde die Stimmung und desto lockerer wurde der Umgang zwischen den Geschlechtern – und das meist nicht zwischen den Eheleuten! Die Mädchen beobachteten, wie die Männer des Königs ungeniert mit den Hofdamen schäkerten. Ein junger Don fütterte die kaum siebzehnjährige Maria mit Trauben und schenkte ihr immer wieder Wein nach. Sie dankte es ihm mit schmachtenden Blicken, bis er sich plötzlich erhob und auf das Portal zuschlenderte. Unter der offenen Tür wandte er sich noch einmal um und warf ihr einen Blick zu, als wollte er sie mit Haut und Haaren verschlingen. Das Mädchen errötete und kicherte. Kaum war ihr Verehrer verschwunden, erhob auch sie sich, schüttelte ihre Röcke und verschwand ebenfalls.
»Ich hoffe nur für sie, dass sie sich ohne Umwege in die Gemächer der Damen begibt«, sagte Beatriz und zog eine Grimasse des Abscheus.
»Ich
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