Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
in Böen durch das Flusstal und ließ Isaura frösteln. Dann erhob sich die Sonne und tauchte den Alcázar in goldenes Licht, sodass er mit seinen runden Türmen und den spitzen Dächern wie ein märchenhafter Palast erstrahlte. Isaura traten Tränen in die Augen, und es war ihr, als habe sie diesen Anblick viel zu lange vermisst – dabei war dies ihr erster Besuch in der alten Königsstadt Segovia.
Obwohl ihr kalt war, blieb sie reglos stehen und sah den Schatten zu, wie sie den felsigen Berghang hinabwanderten, der sich in mehreren Stufen als natürliche Mauer erhob.
Früher war der Hang nicht so bewaldet gewesen , dachte Isaura und wunderte sich über diesen Gedanken.
Sie musste weiter. Die Kanzlei aufsuchen und nach der Hinterlassenschaft ihrer Großtante fragen, die sie hierhergeführt hatte.
Noch ein letzter Blick, dann stieg Isaura wieder in ihren Wagen, den sie am Flughafen in Madrid gemietet hatte.
Sie hatte nach ihrer Auseinandersetzung mit Justus noch am selben Tag gepackt und bereits am Sonntagnachmittag einen Flieger bestiegen, der sie direkt nach Madrid gebracht hatte. Es war ihr klar, dass dies einer Flucht gleichkam. So dringlich waren weder die Erbschaft noch die Reportage für den Verlag.
Nein, etwas anderes trieb sie an. Nur keine Zeit zum Nachdenken lassen. Allein die letzte Nacht war eine Qual gewesen; Isaura hatte sie schlaflos in ihrem Bett verbracht. Justus war am Samstag nach ihrem Gespräch verschwunden und erst so spät wiedergekommen, dass sie ihn nicht mehr gesehen hatte. Er hatte offensichtlich auch kein Bedürfnis gehabt, das Thema noch einmal zur Sprache zu bringen, denn er hatte sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen, ohne noch einmal bei ihr hereinzusehen, was er sonst immer getan hatte, wenn er spät nach Hause kam.
Isaura schob die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Straßen und den Verkehr, was in Spanien auch sehr ratsam war! Das musste Isaura bereits erfahren, kaum dass sie das Flughafengelände verlassen hatte. Man musste forsch fahren, sonst hatte man hier verloren. Vorfahrtsregeln waren höchstens Richtlinien und keinesfalls so absolut zu sehen wie in Deutschland. Doch irgendwie schien es zu funktionieren.
Eine zweite Sache waren die Dörfer. Man kam nichts ahnend auf der gut ausgebauten Landstraße auf ein Dorf zu und glaubte, dass einen die freundliche Stimme aus dem Navigationsgerät über eine Hauptstraße auf direktem Weg hindurchleiten würde, nur um sich dann in einem Gewirr von engen Gassen wiederzufinden, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Einbahnstraßen und Verbotsschilder, an die sich offensichtlich nur Touristen hielten, führten einen kreuz und quer durch die Ortschaft. Zwischen Müllcontainern und Steinpollern musste man versuchen, den Wagen ohne Kratzer in die engen Einmündungen zu bekommen, und landete dann zuweilen in einem Hinterhof ohne Wendemöglichkeit. Vielleicht beobachteten ein paar struppige Katzen die Versuche, den Wagen schadlos wieder rückwärts auf den rechten Weg zu bringen. Menschen sah man in diesen Orten nur vereinzelt. Oft konnte man sie an einer Hand abzählen. Einsame Ge stalten, meist Männer, in dunklen, verschlissenen Kleidungsstücken, der Rücken gebeugt, das schüttere Haar ergraut. Die jungen Menschen hatten die Dörfer, die ihnen keine Zukunft boten, längst verlassen.
Nach ihrer Erfahrung mit den Gassenlabyrinthen der Dörfer war es Isaura nicht danach, die Altstadt von Segovia mit dem Wagen zu erkunden. Sie steuerte den großen Parkplatz im Schatten des Aquädukts an und setzte ihren Weg zu Fuß fort. Es ging steil den Berg hinauf auf die Mauer zu und dann durch eine Lücke, wo einst eines der Stadttore gestanden ha ben musste, ins Innere des Mauerrings. Neugierig sah sich Isaura um, immer wieder einen Blick auf die Karte werfend, die die Dame der Touristeninformation ihr in die Hand gedrückt hatte. Ihr wurde schnell klar, dass diese nur eine sehr grobe Annäherung an die wahren Verhältnisse war und dass es entweder unmöglich war, dem Gewirr der unzähligen verwinkelten Gassen auf einer Karte gerecht zu werden, oder dass sich einfach niemand wirklich Mühe gegeben hatte. So orientierte sich Isaura an dem immer wieder auftauchenden Turm der Kathedrale und ab und zu an einer der breiteren Straßen, deren Name tatsächlich in der Karte auftauchte.
Nach längerer Suche fand sie die Kanzlei von Señor Campillo Fernández in einer schmalen Gasse in der Nähe der Kathedrale, die einst zur
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