Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
erscholl der Ruf »Hoch lebe König Alfonso!« Die Menschen sahen einander irritiert an, dann begannen einige, den Ruf aufzunehmen.
Isabel und Jimena tauschten Blicke. »Du glaubst doch nicht, dass Enrique etwas zugestoßen ist?«, raunte Isabel, und Furcht schwang in ihrer Stimme.
Jimena schloss die Augen und lauschte in sich hinein. »Nein, das glaube ich nicht. Er lebt. Aber ich bin überzeugt, er hat keine Ahnung, was hier gerade vor sich geht.«
Ein ganz in Schwarz gekleideter Ritter stieg auf das Gerüst und entrollte ein Pergament. Mit lauter Stimme begann er zu lesen.
»Dies sind die Sünden und Verbrechen, die Enrique IV. an seinem Land und seinem Volk begangen hat«, verkündete er und zählte dann die abenteuerlichsten Vorwürfe auf, sodass Jimena der Mund tonlos aufklappte. Das Volk begann zu raunen, doch niemand wagte es, den Ritter zu unterbrechen, der seinen Vortrag mit den Worten beendete: »Und daher ist Enrique IV. nicht mehr unser König.«
Bei diesen Worten trat Erzbischof Carrillo zu der Figur und riss ihr die Krone vom Haupt. Der Marquis von Villena wand das Zepter aus ihren Händen, und der Graf von Plasencia nahm ihr das Schwert. Nun näherten sich der Großmeister von Alcantara und die Grafen Benavente und Paredes. Zu dritt rissen sie die Figur von ihrem Thron und schleuderten sie zu Boden.
»Nieder mit dir, du Elender!«, schrien sie, während Diego López de Zúniga ihm Fußtritte versetzte, als sei er ein räudiger Straßenköter.
Isabels Schrei ging in dem der Menge unter. Carrillo führte den völlig fassungslosen Alfonso heran und drückte den Knaben auf den Thron. Er setzte ihm die Krone auf das Haupt und reichte ihm Zepter und Schwert, dann riefen die Ritter und Kirchenmänner den neuen König von Kastilien aus. Alfonso saß wie erstarrt da, unfähig, sich auch nur zu rühren, geschweige denn zu wehren. Jimena war sich sicher, dass er nichts von alldem vorher gewusst hatte.
Sie tippte Isabel an, die wie versteinert dastand und den Blick nicht abwenden konnte. »Komm, lass uns gehen«, raunte sie ihr zu.
Isabel schüttelte den Kopf. »Ich will mit meinem Bruder sprechen«, sagte sie störrisch.
Jimena verstärkte den Griff um ihren Arm. »Das kannst du später, wenn sich die Wogen geglättet haben, doch jetzt müssen wir erst einmal abwarten, wie der König und das Land auf diesen Umsturz reagieren. Enrique muss nun zu den Waffen greifen und gegen diese Tat vorgehen! Und da wäre es nicht gut, wenn du dich hier zusammen mit den Verrätern zeigst. Er könnte denken, du bist auf ihrer Seite. Ich will mir nicht ausmalen, was das für Folgen für dich haben könnte! Außerdem glaube ich, dass sie dich nicht wieder gehen lassen würden, wenn sie dich erkannt hätten. So leicht muss man diesen Verrätern nicht noch einen Trumpf in die Hände geben.«
»Und Alfonso? Was wird mit Alfonso geschehen?«, begehrte sie auf.
»Er ist das Opfer, so oder so«, musste Jimena zugeben. »Wenn er nun König wird, bleibt er für lange Zeit eine Marionette von Carrillo und dem Marquis. Wenn Enrique um seine Krone kämpft und siegen will, muss er ihn stürzen.«
Isabel stöhnte, doch Jimena strich ihr beruhigend über die Hand.
»Du kennst doch den König. Er ist kein Brudermörder. Er weiß, dass Alfonso ein unschuldiger Knabe ist und nur eine Geisel, die man auf den Thron gesetzt hat. Er wird ihm nichts antun – und vermutlich ist es gar nicht schlecht, wenn er in Zukunft dafür sorgt, dass Alfonso in seiner Nähe bleibt. Schließlich hat er ihn als seinen Erben anerkannt. Und solange La Beltraneja enterbt bleibt, ändert sich daran nichts.«
Isabel starrte noch immer zu dem Gerüst hinauf, wo ihr Bruder mit unglücklicher Miene auf dem Thron saß, die viel zu schwere Krone auf dem Kopf. Sein Blick war auf die ge schändete Königsstatue zu seinen Füßen gerichtet, und es kam Jimena vor, als habe der Junge Tränen in den Augen. Vielleicht bekam er langsam eine Ahnung davon, was dieser Tag für ihn, für seinen Halbbruder Enrique und für das ganze Land bedeuten konnte.
»Es wird Krieg geben«, sagte Jimena leise. »Ein häss licher Krieg, in dem der Bruder gegen den Bruder kämpft, der Nachbar gegen den Nachbarn. Und am Ende wird das Land in Trümmern liegen, und die Menschen werden in ihrer Not Hunger leiden. Und dann wird der Tod mit schwarzen Schwingen über die ausgebrannten Dörfer ziehen und nach denen greifen, die sich dem Krieg glücklich entronnen glaubten.«
Isabel schauderte.
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