Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Judería, dem alten Judenviertel, gehört hatte.
Isaura blieb stehen und sah sich um. Kein Mensch war zu sehen. Ein Gefühl von Trauer beschlich sie, das plötzlich in Entsetzen umschlug. Ihr Blick saugte sich an einer Häuserecke fest. Was war das? Etwas Braunrotes rann zäh die Wände herab und floss über das von Unrat bedeckte Pflaster. Ein metallischer Geruch stieg ihr in die Nase und bereitete ihr Übelkeit. Isaura schüttelte den Kopf und trat ein wenig ängstlich näher, doch da war nichts. Ihre Augen hatten sie getäuscht. Der nicht mehr ganz weiße Verputz blätterte von der Wand, doch sonst war nichts zu sehen, und auch der Unrat auf dem Straßenpflaster war verschwunden. Seltsam. Verwirrt drehte sie sich um ihre eigene Achse. Da entdeckte sie an einem der Häuser das Schild der Anwaltskanzlei, worüber sie den Vorfall erst einmal vergaß.
Das Haus war nicht besonders breit und hätte dringend einen neuen Anstrich benötigt. Nein, diese Kanzlei gehörte sicher nicht zu den stark frequentierten großen Häusern, die mit spektakulären Fällen eine Menge Geld verdienten. Isaura betätigte den altmodischen Klopfer in Form eines Löwenkopfs. Eine ältere Dame mit grauem Dutt und einer Brille mit dicken runden Gläsern auf der spitzen Nase öffnete ihr. Ihr Tonfall war freundlich, als sie Isaura fragte, was sie für sie tun könne: » Señora, qué desea usted? Le puedo ayudar en algo?«
»Perdone, aber ich spreche kein Spanisch. Mein Name ist Thalheim. Isaura Thalheim aus München. Señor Campillo hat mir geschrieben.« Sie holte den Brief aus ihrer Tasche und hielt ihn der Dame hin. Diese schob erst ihre Brille zurecht, dann erhellte ein strahlendes Lächeln ihr faltiges Gesicht.
»La Señora Thalheim de Alemania!« Und dann folgte ein Wortschwall, den Isaura als eine überschwängliche Begrüßung interpretierte. Sie verstand nur ihren Namen und den Namen ihrer verstorbenen Großtante, daher nickte sie.
Die alte Dame machte eine einladende Handbewegung, also folgte ihr Isaura in ein kleines Vestibül und dann eine steile Treppe hinauf. Sie nahm in dem ihr angebotenen Ledersessel Platz und sah sich neugierig um, während die alte Dame hinauseilte, um dem Anwalt Bescheid zu geben.
Das Haus war sicher sehr alt, die Wände schief, die Fenster klein, sodass man vermutlich den ganzen Tag das Licht einschalten musste. Die Einrichtung dagegen war gediegen, wenn auch nicht gerade neuwertig. Den Parkettfußboden hätte man abschleifen und neu versiegeln müssen, um seine Schönheit wieder zur Geltung zu bringen. Und auch die schweren dunklen Möbel aus verschiedenen Epochen waren abgestoßen, die Polster auf den Sitzflächen durchgesessen. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb strahlte der Raum eine beruhigende Sicherheit aus und machte es leicht, der Kanzlei sein Vertrauen zu schenken. So viel Erfahrung schien das Haus zu versprechen.
»Buenos días, Señora Thalheim. Encantado! Sehr erfreut«, begrüßte sie der Anwalt und erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen: »Cómo está usted?«
»Bien, gracias«, sagte sie, ihre wenigen Worte Spanisch zusammensuchend. Sie schüttelte dem Anwalt die Hand. Er war so alt, wie die Umgebung es erwarten ließ: Das Gesicht faltig und voller Altersflecken, das Haar fast weiß und ein wenig schütter, doch hielt er sich sehr gerade. Der Blick aus seinen grauen Augen war aufmerksam und der Händedruck fest. Er trug einen dunklen Anzug mit einer korrekt gebundenen Krawatte.
»Kommen Sie mit mir in mein Büro, Mrs Thalheim, dort können wir alles in Ruhe besprechen«, sagte er zu Isauras Erleichterung ins Englische wechselnd.
Er geleitete sie über einen düsteren Flur in ein größeres, helleres Zimmer, dessen Fenster zu einem von hohen Mauern umgebenen Garten hinauszeigten. Isaura trat ans Fenster und sah auf den Springbrunnen und die zierlichen Bänke im Schatten alter Bäume herab, die ihr erstes zartes Frühlingsgrün zeigten.
»Wie schön!«, sagte sie spontan. »Man ahnt gar nicht, dass sich solche Schätze hinter den abweisenden Mauern verbergen.«
Der Anwalt nickte. »Ja, viele sagen, sie empfänden es als beklemmend, den engen Gassen zwischen den hohen Mauern zu folgen.« Er hob die Schultern. »Es ist eben das Erbe unserer Vorfahren. Der Platz im Schutz der Stadtmauern war kostbar und musste vielen Menschen als Wohnraum dienen. Ihn für breite Straßen zu verschwenden ist eine Erfindung der Moderne.«
»Und doch hat man sich kleine Oasen der Erholung gebaut«,
Weitere Kostenlose Bücher