Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
jedenfalls nicht erwarten, keine Konten, Sparbücher oder Wertpapiere. Ja, ich bin mir nicht einmal sicher, ob Ihre Großtante jemals so etwas besessen hat.«
»Ich erwarte gar nichts«, sagte Isaura schnell. »Nur vielleicht, sie wenigstens im Nachhinein noch ein wenig kennenzulernen.«
»Das werden Sie«, prophezeite der Anwalt. »Sie haben doch ein wenig Zeit mitgebracht, um sich das Haus anzusehen und einige Tage zu bleiben?«
»Ihr Haus?«, hakte Isaura nach. »Hier in Segovia?«
Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Nein, in der Nähe der kleinen Stadt Tordesillas im Nordwesten von hier, auf direktem Weg ungefähr hundert Kilometer entfernt. Kennen Sie sie? Oder haben Sie zumindest schon einmal von ihr gehört?«
Isaura schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Der Vertrag von Tordesillas, der die Welt in zwei Hälften schnitt?«
Noch einmal musste Isaura verneinen. »Es tut mir leid. So genau habe ich mich mit spanischer Geschichte nicht befasst, aber ich bin gerade dabei, dies nachzuholen. Wollen Sie mir ein paar Worte dazu sagen? Dann lese ich es später genauer nach.«
Der Anwalt nickte. »Es war Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Spanien und Portugal wetteiferten als Seemächte miteinander und sandten ihre Schiffe aus, um neue Welten zu entdecken und sie sich untertan zu machen. Das führte zu Konflikten, wie Sie sich denken können, und so teilte Papst Alexander VI . die Welt zwischen den beiden katholischen Mächten dieser Zeit auf.«
»Alexander VI .?«, hakte Isaura nach. »Der Borgiapapst?«
Señor Campillo nickte. »Sie sind ja doch nicht so unwissend. Ja, Roderic Llançol i de Borja, der schillerndste der Renaissancepäpste und ein skrupelloser, machtbesessener Herrscher. Jedenfalls schlossen Portugal und Spanien 1494 in Tordesillas den Vertrag, der die Welt in einer Linie von Pol zu Pol aufteilte. Sie liegt bei 46° 37’ westlicher Länge, etwa 1770 Kilometer westlich der Kapverdischen Inseln. Alle Gebiete westlich davon standen Spanien zu – so also das von Kolumbus entdeckte Amerika. Während Afrika und Asien an die Portugiesen fiel. Diese Linie erlaubte den Portugiesen dann allerdings auch noch, Brasilien zu besetzen, weshalb man auch heute dort noch portugiesisch spricht – und nicht spanisch, wie im Rest von Süd- und Mittelamerika.«
Isaura machte sich einige Notizen und nahm sich vor, weitere Details zu recherchieren. Das war doch etwas für ihre Reportage. Als sie ihren Stift weglegte und das Notizbuch zuklappte, das sie stets in ihrer Handtasche trug, kam der Anwalt auf das Testament zurück.
»Das Anwesen Ihrer Familie liegt also, wie gesagt, bei Tordesillas am Ufer des Duero.«
»Anwesen?«, wiederholte Isaura. »Was verstehen Sie darunter? Sagten Sie nicht vorhin, meine Großtante habe dort ein Haus besessen?«
»Ja, ein Haus, in dem sie und einige Generationen vor ihr gewohnt haben. Dann gibt es noch das alte Herrenhaus, das allerdings nicht mehr in bewohnbarem Zustand ist, und so einige Nebengebäude, einen alten Turm und, nun ja, eben die Ländereien, die heute noch dazugehören. Aber machen Sie sich davon keine zu großen Vorstellungen. Land ist hier in der Hochebene nicht viel wert, und ihre Vorfahren waren gezwungen, das meiste in Notzeiten zu veräußern. Mehr als ein paar Hektar sind nicht geblieben.«
»Ein paar Hektar«, echote Isaura, der das alles über ihre Vorstellungskraft ging. Was hatte sie erwartet? Ein paar persönliche Gegenstände einer alten Dame, an der ihre Erinnerungen hingen? Ja, vielleicht.
Der Anwalt schob ihr einen Grundriss zu und zeigte ihr die einzelnen Gebäude. Dann nahm er eine Straßenkarte und zeichnete ihr ein, wie sie zu dem Anwesen gelangen konnte.
»Wenn Sie von Segovia aus die Autobahn Richtung Valladolid nehmen und dann auf der Höhe von Portillo nach Westen abbiegen, sollten Sie in zwei Stunden dort sein.« Er schob ihr über den Schreibtisch einen Bund Schlüssel zu, der so groß war, dass er kaum in ihre Handtasche passte.
»Und nun?«, fragte Isaura, die sich ganz erschlagen fühlte. In ihrem Kopf rauschte es. Das war alles so unwirklich.
»Nun fahren Sie erst einmal hin und sehen sich alles in Ruhe an. Bleiben Sie, so lange Sie möchten. Und wenn Sie sich entschieden haben, ob Sie das Erbe annehmen, dann kehren Sie hierher zurück und unterschreiben die Papiere. Wobei ich betonen möchte, dass sich Carmen am Ende ihres Lebens nichts mehr gewünscht hatte, als dass Sie alles übernehmen.«
»Natürlich nehme
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