Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
bog, um bis zur Kathedrale hin anzusteigen. Jimena ließ den Blick an der fast endlosen Reihe von Türmen entlangwandern.
»Es müssen an die hundert sein«, sagte sie fassungslos. »Wer hat diese Stadt so gut befestigen lassen? Die Mauren können es nicht gewesen sein, denn sonst wäre sie noch immer in ihrer Hand.«
Isabel schob ihren Schleier beiseite und lächelte. »Da hast du wohl recht. Soviel ich weiß, war es König Alfons VI., der nach der Eroberung der Stadt die Mauer erbauen ließ. Oder zumindest damit anfing. Ich denke mir, dass doch einige Jahre verstrichen waren, bis all diese Zinnen und Türme standen.«
Jimena nickte, ohne den Blick abzuwenden, doch dann nahm sie auf der Brücke unten am Fluss etwas wahr, das sie ablenkte.
»Sieh nur die Reiter dort. Kannst du das Wappen erkennen?«
Isabel kniff die Augen zusammen.
»Es sind die Ritter des Alcantaraordens mit ihrem Großmeister, und dahinter, würde ich sagen, reitet der Graf von Paredes mit seinem Gefolge.«
»Wollen wir uns ihnen nicht ganz unauffällig anschließen?«
Isabel zog ihren Schleier wieder übers Gesicht und trieb ihren fahlen Zelter an, der sich in gemütlichem Tempo auf den Weg machte. Dennoch erreichten sie das Ende des Zuges, ehe er im düsteren Tor unter der Stadtmauer verschwand. Rechts und links standen Wächter, die aber keinen aus dem adeligen Gefolge ansprachen, sodass die beiden jungen Mädchen unbehelligt in die Stadt gelangten. Neugierig folgten sie dem Zug der Ritter und ihrer Begleiter die ansteigende Straße hinauf, bis über ihnen die Kathedrale aufragte. Dort auf dem Platz wartete eine große Menschenmenge, die von einigen Bewaffneten an den Rand gedrängt wurde. Ein Raunen lief von einem Mund zum anderen, als sich die Tore endlich öffneten. Aus dem Portal der Kathedrale trat der Erzbischof von Toledo, gefolgt vom Marquis de Villena, der einen Knaben am Arm führte, der alles andere als glücklich aussah. Hinter ihnen reihten sich die anderen Edlen und allerlei Geistlichkeit ein. Der Großmeister ließ sich vom Pferd gleiten und wurde vom Erzbischof mit freundlicher Miene begrüßt. Nun wurden einige prächtige Pferde herangeführt, und sowohl der Erzbischof als auch der Marquis de Villena stiegen auf. Einer der Edlen half Alfonso auf ein mächtiges Streitross mit silbernem Zaumzeug und einem herrlich verzierten Sattel. Dann stiegen die anderen Edlen auf und bildeten einen Zug, in den sich auch der Großmeister mit seinen Rittern einreihte. Das Volk würde ihnen zu Fuß folgen.
Jimena suchte Isabels Blick. Sie ahnte, dass die Freundin sich nur mit Mühe zurückhalten konnte, nicht zu ihrem Bru der zu stürzen, doch Isabel beherrschte ihre Gefühle und sagte fast kühl: »Wir sollten die Pferde irgendwo unterstellen und uns dann ansehen, was sich Carrillo und Villena für eine Schurkerei ausgedacht haben.«
Jimena nickte, glitt vom Pferd und half dann Isabel beim Absteigen. Sie führten die Tiere ins nächste Gasthaus und ließen sie für ein wenig Kleingeld in den Stall bringen. Dann eilten sie zum Platz der Kathedrale zurück, wo sich der Zug der Menge gerade in Bewegung setzte. Die schwirrende Anspannung, die die Menschen in Atem zu halten schien, lag wie Blei in Jimenas Magen. Was um alles in der Welt hatten sie vor?
Ohne aufzufallen mischten sich die beiden unter das Volk, das sich hinter den Edlen und den Kirchenmännern einreihte, die nun hoch zu Ross die Stadt durch ein anderes Tor verließen. Bald sahen sie das Ziel des seltsamen Umzugs. Es war ein mächtiges Gerüst, auf dem sie einen Thronsessel erkennen konnten, auf dem bereits eine Gestalt Platz genommen hatte.
Isabel schlug die Hand vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken. Was war denn das? Jimena erkannte schnell, dass es sich hier nicht um einen Menschen, sondern lediglich um eine Art riesige Puppe handelte. Wen sie darstellen sollte, konnte keinem verborgen bleiben, denn die Statue hatte nicht nur einen prächtigen Umhang über den Schultern, sie trug auch eine Krone auf dem Kopf und hielt das königliche Zepter in der Hand. Vor ihnen saß das Abbild König Enriques IV. Das wurde ja immer seltsamer.
Der Zug hielt an, und die Edlen überließen ihre Pferde den Knechten. Der Erzbischof vertauschte seine Rüstung mit einem Messgewand und bestieg das Gerüst, wo er begann, die Messe zu lesen. Stille senkte sich über das gespannt wartende Volk. Als Carrillo geendet hatte, führte der Marquis de Villena Alfonso heran. Von irgendwoher
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