Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
»Sprich nicht so. Noch können wir hoffen, dass es nur eine Farce war. Die Farce einiger machthungriger Männer, die die Krone an sich zu reißen versuchen und kläglich damit scheitern. Man wird sie verurteilen und vergessen!«
Jimena schwieg. Sie sah zu Carrillo hinauf, der die Arme zum Segen erhoben hatte. Nein, so schnell würde die Ge schichte des Erzbischofs von Toledo nicht zu Ende gehen. Er würde ein Spieler auf der großen Bühne bleiben und noch viele Jahre ihre Wege kreuzen, im Guten und im Schlechten. Sie konnte es nicht erkennen. Dafür sah sie ein anderes Gesicht. Bleich und ausgemergelt mit dem Schimmer des Todes in den weit aufgerissenen Augen. Jimena schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben.
Plötzlich spürte sie eine Hand auf der Schulter und fuhr herum. Jimena blinzelte und glaubte, ihr Geist würde sie narren, doch der Klang der so lange vermissten Stimme wischte alle Zweifel beiseite.
» Tía ! «, stieß sie hervor. »Wo kommst du denn her?«
»Aus Arévalo, woher sonst?«, antwortete Dominga mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme. »Der Königinwitwe geht es nicht gut. Ihr Geist verliert sich in der Finsternis.«
»Und was machst du hier?«, hakte Jimena nach, obgleich sie die Antwort ahnte. Sie stöhnte. »Du bist unseretwegen gekommen. Du hast es gesehen.«
Dominga nickte. »Ja, und nun wird es Zeit, dass ihr nach Segovia zurückkehrt.«
Ihre eindringliche Stimme erfasste auch Isabel, die ihren Blick endlich von ihrem Bruder löste und Jimenas Tante höflich begrüßte. Sie fragte nicht, wie es möglich war, dass sie von ihrer heimlichen Reise wusste und bereits jetzt in Ávila eingetroffen war, wo doch Arévalo kaum näher lag und die Strecke nur unter größter Anstrengung an einem Tag bewältigt werden konnte.
Dominga bahnte den Mädchen einen Weg durch die immer dichter werdende Menge, wobei sie nicht wie andere ihre Ellenbogen benutzte oder sich gegen die Menschen drängte, um einen Durchgang zu schaffen. Sie schritt einfach langsam dahin, und die Menge schien sich vor ihr zu teilen wie das Rote Meer vor Moses. Erstaunlich! Wie machte sie das nur?
Sie schwiegen, bis sie den Menschenauflauf hinter sich gelassen hatten und durch die nun ausgestorbenen Gassen der Stadt schritten.
»Was wird nun weiter geschehen?«, fragte Jimena.
Dominga schüttelte den Kopf. »Ich kann es noch nicht klar sehen«, behauptete sie. Doch vielleicht wollte sie die Mädchen nur nicht beunruhigen oder scheute sich, vor Isabel zu sprechen, die die weise Frau und Sterndeuterin ihrer Mutter mit einem seltsamen Blick bedachte.
»Man kann nicht in die Zukunft sehen«, sagte Isabel fest.
»Und warum nicht?«, begehrte Jimena auf.
»Weil die Zukunft nicht vorherbestimmt ist. Wir sind alle in Gottes Hand, aber es liegt an uns, was wir aus den Gaben machen, die Er uns gegeben hat. Nur wenn wir uns zurücklehnen und uns in unser Schicksal ergeben, dann wird es über uns herfallen und uns verschlingen.«
Es lag so viel Tatendrang in ihrem Blick, dass Dominga und Jimena nicht das Bedürfnis hatten, ihr zu widersprechen.
So holten sie die Pferde aus dem Stall, wo auch Dominga das ihre untergestellt hatte, und machten sich auf den Rückweg. Dominga begleitete die Mädchen. Sie wollte nicht nur ihre Tochter nach so langer Zeit wiedersehen. Sie ahnte, dass der König nach Segovia eilen würde, sobald er von dem Streich gegen ihn erfuhr, und sie wollte wissen, wie er reagieren würde. Oder hoffte sie sogar, seine Entscheidung beeinflussen zu können? Jimena war sich nicht sicher. Ihre Tante gehörte nicht zu den Beratern des Königs, dennoch konnte sie sich gut vorstellen, dass Dominga Kräfte besaß, mit denen sie ihn zu lenken vermochte, vielleicht ohne dass er sich dessen bewusst wurde.
Kapitel 10
Segovia, März 2012
Isaura stand auf einer kleinen Brücke, die über den Río Eresma führte, und ließ den Blick den Berghang bis zu seiner höchsten Erhebung im Westen hinaufwandern, wo sich auf einer steilen Felsklippe über dem Zusammenfluss zweier Gewässer der königliche Alcázar erhob. Wie der Bug eines Schiffes ragte die Spitze in das Tal hinein. Von dort zogen sich zu beiden Seiten die wehrhaften Mauern in einem geschlossenen Ring um den gesamten Berg, von nur wenigen Toren unterbrochen und an seiner Ostseite durch das mächtige römische Aquädukt mit dem Hügel der Vorstadt verbunden, den Isaura von ihrem Standpunkt allerdings nicht sehen konnte.
Es war noch früh am Morgen. Ein kühler Wind fuhr
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