Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
meinte Isaura, die noch immer in den Garten hinuntersah.
Der Anwalt lächelte. »Ja, das haben die Spanier von den Mauren gelernt. Kein Haus ohne einen schattigen Innenhof mit Wasserspielen und Blumen, um die Seele zu erquicken.«
Er nahm an seinem Schreibtisch Platz und bot Isaura den Sessel davor an. Erst als sie sich gesetzt hatte, nahm er einen abgegriffenen Ordner zur Hand und schlug ihn auf.
»Wie schön, dass Sie so schnell kommen konnten«, begann er. »Ich weiß, dass Sie Ihre Großtante Carmen nicht persönlich gekannt haben, ja, vielleicht nicht einmal von ihrer Existenz wussten.«
Isaura nickte. »Ja, so ist es. Ich bedaure das und verstehe auch nicht recht, warum nie jemand von ihr gesprochen hat.«
Ein wissender Blick trat in seine grauen Augen, doch er sagte nur: »Dafür wusste Carmen sehr gut über Sie Bescheid und hat Ihren Lebensweg mit Interesse verfolgt.«
»Wirklich? Aber warum hat sie sich dann nie bei mir gemeldet?«
Señor Campillo hob die Schultern. »Das war ihre Entscheidung, die ich nicht infrage zu stellen habe.«
Isaura schwieg und dachte eine Weile darüber nach. Der Anwalt ließ ihr Zeit. Er schien es nicht eilig zu haben.
»Kannten Sie sie gut?«, fragte sie schließlich.
Señor Campillo überlegte, ehe er ihr antwortete. »Ich kannte Ihre Großtante viele Jahre … Jahrzehnte, und ich mochte sie sehr. Aber ob ich sie gut kannte, das ist eine Frage, die ich mir selbst schon gestellt habe. Ich fürchte, ich muss dies verneinen, auch wenn es mich ein wenig traurig stimmt. Sie war eine große Frau – groß an Geist, Herz und Verstand. Doch sie war auch eine geheimnisvolle Frau, die sich niemals in die Karten schauen ließ und jeden auf Abstand zu halten verstand. Sie lebte zeit ihres Lebens allein, obgleich es ihr in ihrer Jugend nicht an Verehrern gefehlt hatte.«
»Sie war nicht verheiratet? Aber ich dachte, das Foto, das Sie mir geschickt haben, sei ein Hochzeitsfoto gewesen.«
Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Nein, zumindest nicht ganz. Sie war zu Gast auf der Hochzeit meines älteren Bruders. Damals habe ich sie kennengelernt.«
Der Seufzer verriet Isaura, dass sie zu mehr für ihn wurde als nur zu seiner Klientin – später, rechnete sie sich aus. Damals musste er in ihren Augen noch ein Kind gewesen sein. Er war gut und gern zehn Jahre jünger als ihre Großtante, was allerdings bedeutete, dass auch er schon Mitte achtzig und eigentlich längst im Ruhestand sein musste. Isaura hatte Muße, ihn zu betrachten, während er seinen Erinnerungen nachhing. Doch dann rief er sich zur Ordnung und senkte den Blick auf die Papiere in seinem Ordner – das Testament, wie Isaura vermutete.
»Da Carmen Sie als ihre Alleinerbin eingesetzt hat, müssen wir uns nicht mit einer Erbenversammlung und einem offiziellen Termin zur Testamentseröffnung aufhalten«, sagte er. Isaura schnappte nach Luft.
»Alleinerbin? Ich meine, hatte sie denn keine anderen Verwandten?«
Der Anwalt hob die Schultern. »Vielleicht. Aber ich denke, es ist Tradition in ihrer Familie, sich eine würdige Nachfolgerin zu suchen und ihr dann alles zu überlassen. Ich vermute einmal, dass Carmen sie in Ihnen gefunden hat, sonst hätte sie dieses Testament nicht gemacht und noch drei Tage vor ihrem Tod bestätigt.«
»Drei Tage vor ihrem Tod?«, wiederholte Isaura. »Was für ein Zufall. Oder war sie so schwer krank, dass man es absehen konnte?«
Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Nein, krank war sie nicht. Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, dass sie jemals krank gewesen wäre. Sie war eine energische Persönlichkeit und immer mit prächtiger Gesundheit gesegnet. Sie hat mich an diesem Tag sogar hier in Segovia in meiner Kanzlei aufgesucht! Dabei wäre ich natürlich zu ihr gekommen, wenn sie mich angerufen hätte. Aber nein, so war sie. Lieber reiste sie stundenlang über Land. Aber um ihre Frage zu beantworten – ein Zufall war das nicht. Sie wusste, dass ihre Zeit abgelaufen war und dass sie sterben würde, und da wollte sie sich noch einmal versichern, dass auch nach ihrem Tod alles nach ihren Wünschen laufen würde.«
Er lächelte wehmütig, und Isaura bedauerte, dass sie diese Frau nicht hatte kennenlernen dürfen.
»Ja, Sie wären prächtig mit ihr ausgekommen«, bestätigte Señor Campillo, als habe er ihre Gedanken gelesen. Dann senkte er den Blick wieder auf das Testament.
»Wie ich schon sagte, sind Sie Alleinerbin, was immer das auch bedeuten mag. Reichtümer dürfen Sie
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