Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
schien niemand außer ihnen hier draußen unterwegs zu sein.
»Und wenn es so wäre?«, konterte sie und stemmte die Hände in die Hüften.
»Dann müsste ich mich entschuldigen und mich zurückziehen, denn ich weiß, es geht mich nichts an. Anderseits bin ich dein Vetter und könnte dich in strengem Ton auffordern, nicht gegen die guten Sitten zu verstoßen. Ja, das sollte ich vermutlich tun, denn ich hätte keine ruhige Minute mehr bei dem Gedanken, dass du einem Galan solch ein nächtliches Treffen gewährst.«
»So besorgt um meine Tugend?«
Er seufzte tief und stieß dann hervor: »Die Eifersucht würde mich zerfressen. Ich könnte nicht mehr für meine Handlungen garantieren.«
»Oh weh, würdest du gar das Schwert ziehen?«, wollte Jimena wissen, die sich wider Willen geschmeichelt fühlte.
»Wer weiß?«
»Nun, dann ist es ja gut, dass ich dir versichern kann, dass ich nichts dergleichen vorhabe. Ich brauche einfach ein wenig frische Luft und Ruhe, um meine Gedanken zu ordnen.«
»Und dazu musst du den Palast um diese Zeit verlassen? So etwas ist für eine junge Dame nicht ungefährlich!«
Jimena schnaubte abfällig. »Ach, du meinst, so gefährlich, wie sich allein und unbewaffnet in den Gängen und Höfen des Alcázar herumzutreiben?«
Verlegen sah Ramón zu Boden.
»Du hast vermutlich recht. Glaube mir, ich bin über diese lockeren Sitten nicht erfreut, doch was könnte ich dagegen tun, wenn all die Granden und selbst der König und die Königin so leichtfertig handeln? Die Tugend ist in den königlichen Palästen leider kein hohes Gut mehr.«
»Nein, wirklich nicht«, stimmte ihm Jimena zu und setzte ihren Weg an der Stadtmauer entlang fort. Ramón passte seinen Schritt dem ihren an und ging so nah neben ihr, dass er sie fast berührte. Es war ihr, als könne sie seine Wärme durch den dünnen Schal spüren, den sie sich um die Arme gelegt hatte.
»Möchtest du auf den Turm hinaufsteigen und über die Mauer sehen?«, fragte er und deutete auf die schmalen steinernen Stufen, die sich vor ihnen emporwanden.
»Warum nicht? Wenn wir von den Wächtern nicht gerügt werden.«
»Es ist niemand oben«, versicherte Ramón. »In friedlichen Zeiten sind nicht alle Stadttürme besetzt.«
»Friedliche Zeiten«, schnaubte Jimena. Sie raffte ihre Röcke und stieg vor ihm die Treppe hinauf, die sich bis auf die Plattform hinaufwand. »Wir haben mehr als genug Unruhen im Land, und es gärt unter der Oberfläche. Glaubst du, Erzbischof Carrillo und der Marquis von Villena haben klein beigegeben und sind von nun an treue Gefolgsleute des Königs? Ich jedenfalls kann das nicht glauben. Immerhin haben sie nach wie vor Alfonso in ihrer Gewalt – oder unter ihrem Schutz, wie sie es nennen. Es spricht zwar keiner mehr über diese kuriose Krönung in Ávila, dennoch ist er der Thronfolger, sollte König Enrique etwas passieren.«
Ramón betrat hinter ihr die Turmplattform, von der sie einen weiten Blick über das nächtliche Flusstal hatten.
»Glaubst du, der König ist in Gefahr?«, nahm Ramón ihre letzten Worte auf.
Jimena überlegte. Sie schloss die Augen und ließ ihre Gedanken kreisen, doch sie konnte den König nicht sehen.
»Ich weiß es nicht, ich glaube nicht, dass ihm unmittelbar Gefahr droht«, sagte sie nach einer Weile. Sie hob die Lider und sah, wie Ramón nickte. Er zog ihre Worte nicht in Zweifel. Glaubte er, sie habe die gleichen Kräfte wie seine Mutter? Sie verfüge wie Dominga über das Gesicht?
Tust du das denn nicht?, erklang eine erstaunte Stimme in ihr, und da sah sie ihn: König Enrique auf seinem Totenbett. Jimena zuckte zusammen. Nein, kein Blut, keine Wunde durch einen heimtückischen Dolchstoß. Ausgezehrt sah der König aus.
»Nein, keine Gefahr durch seine Widersacher«, wieder holte sie leise, »aber alt werden wird der König dennoch nicht.«
Ramón legte ihr seine Hand auf den Mund. »Psst, so etwas darf man nicht sagen, selbst wenn es die Wahrheit sein sollte. Mit solchen Prophezeiungen macht man sich keine Freunde – zumindest nicht beim König und seinen Anhängern.«
Jimena sah ihren Cousin ernst an. »Auf welcher Seite stehst du, tief in deinem Herzen?«
»Auf der Seite des Königs natürlich«, stieß er fast ein wenig wild hervor. »Und auf der Seite seiner rechtmäßigen Erbin, der man auf infame Weise den Thron rauben will.«
»Du meinst, La Beltraneja sollte die Thronerbin sein?«
»Nenn sie nicht so! Sie ist die Infantin Juana, die
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