Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
noch nicht wusste, wie dornig ihr Weg werden würde.
Kapitel 13
Tordesillas, März 2012
Es dämmerte bereits, als Isaura sich Tordesillas näherte, einer unbedeutenden Kleinstadt am Ufer des Río Duero, der sich als breiter Strom durch das Tal wälzte. Während das Ufer auf der Südseite kaum ansteigend in eine weite Ebene überging, erhob sich die Stadt auf dem Prallhang, der Außenseite des kurvigen Flusslaufs, in steinernen Stufen mehrere Dutzend Meter über den Strom. Wie in so vielen kastilischen Orten ragten zahllose Kirchtürme über den Hausdächern auf. Es erstaunte Isaura immer wieder, wie viele oft riesige Kirchen und Konvente es in den mittelalterlichen Dörfern und Städten gegeben hatte, die meist ja wesentlich kleiner gewesen waren als die Orte heutzutage. Die Zahl der Mönche und Nonnen musste einen erheblichen Anteil der Bevölkerung ausgemacht haben. Wovon hatten sie nur gelebt? Von Almosen? Vielleicht, doch vermutlich nur die Bettelorden, wenn überhaupt.
Von ihrer Hände Arbeit? Wohl kaum. Eher der Arbeit ihrer Laienbrüder und -schwestern, die die Ländereien des Konvents bestellten. Aber irgendwoher musste die Kirche diese ja bekommen haben. So viele Stiftungen?
Isaura fuhr über die Brücke zum Nordufer des Duero und warf einen Blick auf die von der Abendsonne angestrahlte Kulisse. Sie würde sich die Stadt am nächsten Tag genauer ansehen. Jetzt drängte es sie, das Anwesen, das die unbekannte Großtante ihr vererbt hatte, noch bei Tageslicht in Augenschein nehmen zu können. Sie fuhr auf einer schmalen Straße nahe dem Fluss nach Westen, bis sie zu der Abzweigung kam, die der Anwalt ihr beschrieben hatte. Eine mächtige abgestorbene Pappel ragte in den Abendhimmel. Dahinter konnte sie durch braunes Schilf hindurch das Wasser des Duero erkennen, der sich in einer seiner Schleifen wieder der Straße näherte. Isaura bog in den Feldweg ein. Langsam fuhr sie weiter. Der Weg war nur notdürftig befestigt und so ausgefahren, dass sie vorsichtig um tiefe Löcher und Furchen herumkurven musste. Sie passierte zwei verlassene Bauernhäuser, die kaum mehr als Hütten waren. Dann tauchte eine Mauer vor ihr auf, die auf der einen Seite bis hinunter zum Fluss führte und sich auf der anderen um einen Hügel wand. Das rostige Gittertor stand offen, also fuhr sie weiter. Rechts tauchte die Ruine eines runden Turms auf, zu dessen Füßen sie zwischen einigen noch kahlen Bäumen weitere Mauerreste erkennen konnte. Dann weitete sich der Weg unvermittelt zu einer breiten Auffahrt, hinter der sich ein großes graues Gebäude erhob, dessen Baustil Isaura nicht recht einschätzen konnte. Es war aber bestimmt vier- oder fünfhundert Jahre alt und in einem schlechten Zustand. Die leeren Fenster starrten sie traurig an. Wilder Wein wand sich an den Mauern empor. Das Dach schien an einigen Stellen eingebrochen. Das also musste das Herrenhaus sein, von dem der Anwalt bereits gesagt hatte, dass es nicht mehr bewohnbar war. Reste eines Mauerrings sprachen davon, dass es noch zu einer Zeit erbaut worden sein musste, als es tunlichst geboten war, sein Hab und Gut gegen umherziehende Marodeure zu schützen, selbst wenn es in dieser Gegend vermutlich keine Maureneinfälle mehr gegeben haben sollte. So genau wusste Isaura das nicht. Auch ein Punkt, dem nachzugehen sich lohnen würde.
Sie folgte dem immer schmaler werdenden Pfad und fuhr durch einen kleinen Pappelhain, dessen dürre Blätter vom Vorjahr im Abendwind wisperten. Der Weg wurde noch unebener und machte dann eine Biegung, um dann durch ein Tor zu verschwinden. Die beiden Holzflügel standen offen und hingen ein wenig schief in den Angeln. Vorsichtig ließ Isaura den Wagen über die Schwelle holpern und hielt dann in dem kleinen ummauerten Hof, in dessen Hintergrund sich ein Häuschen aus grobem Naturstein erhob. Auch dieses schien schon mehr als ein Jahrhundert Wind und Wetter zu trotzen. Das Dach wirkte wettergegerbt und hing ein wenig durch. Und dennoch strahlte das alte Haus einen eigentümlichen Charme aus. Isaura parkte den Wagen und stieg aus. Die Sonne berührte bereits den Horizont und ließ ihre letzten Strahlen über den mit Flusskieseln gepflasterten Hof streichen, dessen Nordseite die Hausfront einnahm. Im Osten und Süden, wo der Blick über die niedrige Mauer bis auf den Fluss reichte, der träge in seinem Bett dahinfloss, hatte ihre Großtante einen Garten angelegt, der sorgfältige Pflege und viel Ausdauer erkennen ließ. Selbst zu dieser
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