Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Jahreszeit konnte man eine bunte Mischung aus Blumen, Kräutern und Gemüse erahnen, die Beete sorgfältig von kleinen Wegen begrenzt, sodass er in seinen geometrischen Formen an einen Klostergarten erinnerte. Dahinter ragten einige knorrige Obstbäume auf, die einen Hauch von erstem Grün zeigten. Auf der Westseite erhob sich – ein wenig zurückversetzt – eine baufällige Scheune, an die sich zwei Schuppen lehnten. Einer der beiden diente offensichtlich als Garage. Isaura konnte durch die halb geöffnete Tür einen alten Wagen sehen.
War Carmen in ihrem hohen Alter noch selbst gefahren? Vermutlich. Wie sonst hätte sie diesen einsamen Hof jemals verlassen können? Sie musste doch zumindest ab und zu nach Tordesillas gekommen sein, um ihre Einkäufe zu erledigen. Dass sie es geschafft haben mochte, sich hier draußen völlig selbst zu versorgen, konnte sich Isaura nicht vorstellen, obgleich sie bei ihrem ersten Rundgang auch einige leere Hühner- und Hasenställe fand.
Es dämmerte bereits, als Isaura mit dem großen Schlüssel bund in den Händen vor der Haustür stehen blieb. Der zweite, den sie probierte, passte. Zaghaft schob sie die Tür auf und trat in den düsteren Eingangsbereich. Fast ein wenig ehrfürchtig ließ sie den Blick schweifen: Ein paar ausgetretene Arbeitsschuhe mit grober Sohle, an denen noch der rote Lehm aus dem Garten klebte, eine leere Milchkanne und eine Blechschüssel standen neben der Fußmatte, daneben ein wackliger Stuhl mit einem Stiefelknecht, darunter ein paar Holzpantinen. Isaura schob die Tür hinter sich zu. Sie kam sich wie ein Eindringling vor und hatte das Bedürfnis, sich bemerkbar zu machen.
Großtante Carmen? Ich bin da! Isaura, deine Großnichte aus Deutschland! Wo bist du? Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen. Darf ich eintreten?
Es kam kein Laut über ihre Lippen. Wozu auch? Wer würde ihr noch antworten können? Der Gedanke an die verpasste Chance trieb ihr Tränen in die Augen. Sie wischte sie nicht ab, sondern öffnete die Tür, die in den Wohnraum führte. Als sie die Klinke umfasste, zuckte sie zurück. Es war ihr, als würde eine warme Hand ihre Finger berühren. Eine Stimme erklang in ihrem Geist.
Du musst dich nicht grämen, Isaura. Deine Eltern wollten es so, und ich habe mich auch nach ihrem Tod daran gehalten. Jetzt aber ist die Zeit gekommen, da wir uns kennenlernen dürfen.
Isaura sah sich hastig um, doch es war niemand zu sehen. Sie stand allein unter der Tür zwischen dem Eingang und dem Wohnzimmer, und nur der Wind fuhr mit einem Seufzen um das Haus.
»Sei nicht albern!«, rügte sie sich und trat forsch ein. Vom hinteren Teil des Wohnraums führte eine Holztreppe nach oben unters Dach, links öffnete sich eine Tür in eine geräumige Küche mit einer Speisekammer auf der Nordseite und einer steinernen Treppe, die in den Keller hinunterführte. Der Boden war mit ausgetretenen rötlichen Terracottafliesen ausgelegt, der Herd war riesig, wurde mit Holz beheizt und stammte vermutlich noch aus Carmens Jugendzeit. Daneben stand ein Gasherd, der noch die Sechzigerjahre gesehen haben musste. Der rechteckige Spülstein unter dem Südfenster, das zum Hof hinauszeigte, verdiente seinen Namen noch und konnte kaum jünger sein als der alte Ofen. Immerhin hatte sie einen Kühlschrank besessen, der im Augenblick glücklicherweise leer war. Irgendjemand hatte ihn nach ihrem Tod vermutlich ausgeräumt und ihn und die anderen Geräte ausgesteckt. Wobei es hier nicht allzu viel gab, das einen Stromanschluss benötigte!
Isaura gefiel vor allem die Sitzecke unter dem zweiten Fenster der Küche, das nach Westen wies und ein Stück des rosa verfärbten Abendhimmels zeigte. Dies war offensichtlich Carmens Lieblingsplatz gewesen: ein stabiler quadratischer Holztisch mit einer Eckbank und einem bequemen Sessel an der Wand. Kunstvoll bestickte Kissen lagen auf der Bank, ein Nähkörbchen und ein zweiter Korb mit einem Strickzeug aus dicker, warmer Wolle daneben. Vielleicht eine Jacke oder ein Pullover für den Winter, der hier im Hochland von Kastilien anscheinend kälter und rauer war, als es sich Isaura bisher vorgestellt hatte.
Ein Poltern draußen ließ sie zusammenfahren. Dann war ein leises Tippeln auf dem Holzboden im Wohnzimmer zu vernehmen. Isaura spürte ganz deutlich, dass sie nicht mehr allein im Haus war.
»Ist da jemand?«
Zaghaft ging sie zur Tür und schaltete das Licht ein. Ein großer getigerter Kater sah aus grünen Augen zu ihr auf.
»Mann,
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