Das Kastler-Manuskript - Ludlum, R: Kastler-Manuskript - THE CHANCELLOR MANUSCRIPT
Zorn war offenkundig. »Was Sie getan haben, geht weit über das hinaus, was wir sanktioniert hatten! Sie haben Entscheidungen getroffen, von denen Sie wußten, daß ich sie nicht billigen würde, Schritte unternommen, die zwei Männern das Leben kosteten und beinahe zu Kastlers Tod geführt hätten.«
»Einer jener Männer war selbst ein Killer«, erwiderte Varak ohne Ausdruck. »Und Rawlins war bereits markiert, bei ihm war es nur eine Frage der Zeit. Was Kastler angeht, so hätte ich bei dem Versuch, ihn zu retten, fast selbst das Leben verloren. Ich glaube, ich habe für meine falsche Einschätzung der Situation bezahlt.«
»Falsche Einschätzung der Situation? Wer hat Ihnen das Recht dazu gegeben?«
»Sie. Sie alle.«
»Aber es gab doch Grenzen! Das hatten Sie doch verstanden.«
»Ich hatte verstanden, daß es Hunderte von verschwundenen Akten gibt, die dazu benutzt werden können, dieses Land in einen Polizeistaat zu verwandeln! Bitte vergessen Sie das nicht.«
»Und ich bitte Sie, nicht zu vergessen, daß hier nicht die Tschechoslowakei ist. Und nicht Lidice 1942. Sie sind kein dreizehnjähriger Junge, der über Leichen kriecht und jeden tötet, der vielleicht Ihr Feind sein könnte. Man hat Sie nicht vor dreißig Jahren hierhergebracht, damit Sie Ihr eigener Henker werden.«
»Man hat mich hierhergebracht, weil mein Vater für die Alliierten arbeitete! Meine Familie ist massakriert worden, weil er für sie tätig war.« Varaks Augen umwölkten sich. Er hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, wenn er an den sonnigen Morgen des 10. Juni 1942 dachte. Ein Morgen des Todes überall, ein Morgen nach vielen Nächten, in denen er sich in den Bergwerken versteckt hatte, und der Tage und Nächte, in denen er als Dreizehnjähriger Kerben in die Stützen eines Bergwerkschachts geschnitten hatte, von denen eine jede einen toten Deutschen symbolisierte. Aus einem Kind war ein beachtlicher Killer geworden. Bis die Briten ihn herausgeholt hatten.
»Wir haben Ihnen alles gegeben«, sagte Bravo und senkte die Stimme. »Alle Verpflichtungen sind eingelöst worden, und wir haben an keiner Stelle gespart. Die besten Schulen, alle Vorteile... «
»Und die Erinnerungen, Bravo. Vergessen Sie die nicht.«
»Und die Erinnerungen«, nickte Munro St. Claire.
»Sie mißverstehen mich«, sagte Varak schnell. »Ich suche keine Sympathie. Ich sage Ihnen nur, daß ich nichts vergessen habe.« Varak trat einen Schritt näher an die Schreibtischkante. »Ich habe achtzehn Jahre für das Privileg bezahlt, das nicht zu vergessen. Bereitwillig bezahlt. Ich bin der beste Mann im NSC und suche die Nazis in jeder Form, in der sie wieder auferstanden sind, und mache Jagd auf sie. Und wenn Sie glauben, daß es einen Unterschied zwischen dem gibt, wofür diese Archive stehen, und den Zielen des Dritten Reiches, dann irren Sie sich gewaltig.«
Varak hielt inne. Das Blut war ihm ins Gesicht gestiegen. Er war nahe daran zu schreien, aber das kam natürlich nicht in Frage. Munro St. Claire beobachtete den Agenten stumm. Langsam ließ seine eigene Wut nach.
»Sie sind sehr überzeugend. Ich werde Inver Brass einberufen. Man muß sie informieren.«
»Nein. Berufen Sie keine Versammlung ein. Noch nicht.«
»Für diesen Monat ist bereits eine Versammlung angesetzt. Wir müssen einen neuen Genesis wählen. Ich bin zu alt; und Venice und Christopher sind es auch. Bleiben nur Banner und Paris. Das ist eine furchtbare...«
»Bitte.« Varak stützte sich mit beiden Händen auf die Schreibtischkante. »Berufen Sie diese Versammlung nicht ein.«
St. Claires Augen verengten sich. »Warum nicht?«
»Kastler hat das Buch begonnen. Der erste Teil des Manuskripts ist vorgestern abgeliefert worden. Ich bin in das Schreibbüro eingebrochen. Ich habe es gelesen.«
»Und?«
»Ihre Theorie ist vielleicht genauer, als Sie dachten. Kastler sind einige Dinge eingefallen, die mir nie in den Sinn gekommen sind. Und Inver Brass ist auch erwähnt.«
15
Und dann lag eines Tages plötzlich Kälte in der Luft. Aus dem Herbst wurde Winter. Die Wahlen waren vorbei, die Ergebnisse ebenso vorhersehbar wie der Frost, der die Felder von Pennsylvania bedeckte. Doppelzüngigkeit und die Werbekünste der Madison Avenue hatten wieder ihren Sieg über linkische Amateure davongetragen. Niemand gewann etwas Wertvolles, geschweige denn die Republik.
Peter hatte sich nicht viel um Politik gekümmert. Sobald die Akteure einmal im Spiel waren, gab es nicht mehr viel, das ihn
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