Das katholische Abenteuer - eine Provokation
Unrecht eines Urteils und das noch größere Unglück sinnloser Gewalt. Der staubgraue Schmerz und die Irritation waren aus den Gesichtern gewichen. Sie strahlten. Einer rief ihm zu: »Zeig uns den Weg, Prediger!«
Eines Tages bat mich der Schauspieler und Dramatiker Wally Shawn, dem ich von Butts erzählt hatte, ihn zur Abyssinian Church mitzunehmen. Es war in den Wochen nach dem Tod seines Vaters, des legendären Chefredakteurs des New Yorker William Shawn. Weder das Blatt noch der Mann waren religiös gestimmt, sie standen für metropolitan, abgeklärt, im Zweifel für eine brillante und zynische Sicht auf die Welt, und auch Wally war nicht religiös.
Wir saßen in der Holzbank auf der Besuchertribüne und schauten hinab auf die Kirchengemeinde, auf das Singen und Bekennen, die Erwachsenen in den weißen Leinengewändern, die ins Taufbad stiegen, um sich wiedertaufen zu lassen, schwarze gebügelte Anzüge und adrette Blumenhüte, denen man ansah, dass sie in dieser armen, schwarzen Gemeinde nur zu besonderen Anlässen aus dem Schrank geholt wurden. Und wir sahen Calvin Butts, wie er mit ausgebreiteten Armen am Pult stand … und da hörte ich es schluchzen neben mir.
Wally weinte. Er war so aufgewühlt, wie ich es bei ihm nie erlebt hatte. Als Dramatiker ist er das Gegenteil von sentimental. Auf der Leinwand ist er oft der komische kleine Verlierer, der die Schläge des Schicksals ergeben hinnimmt, ohne zu murren. Ich war regelrecht erschrocken. Als er später seine Gefühlsaufwallung zu erklären versuchte, gab er es nach einigen Versuchen auf. Da war nichts, was er gehört hatte. Nichts, was er gesehen hatte. Es war eine Schwingung, die ihn ergriffen hatte, in Woodstock hätte man von »Vibes« gesprochen.
Ich habe den Eindruck, dass Amerikanern die religiöse Erfahrung offener steht als uns. Sie ist längst nicht so verbaut und verstellt durch Vorurteile und Bedenklichkeiten und Sophistereien. Sie ist naiver. Religiosität und Erweckungsfieber sind überall, und sie waren in den USA nie nur eine Sache des Establishments, sondern auch Teil der Counterculture, der Hippiekommunen, der Sonnenkinder, der Drogengemeinde, der Halbwahnsinnigen und Entgrenzten.
Bob Dylan hatte seine religiöse Erweckungsphase, Leonard Cohen hatte sie, Kris Kristofferson betete ins Mikrofon: »Thank you Lord, what have I ever done to deserve even one of the blessings you gave … «, und die Byrds sangen »Jesus is just alright« in ihren Konzerten, in denen dicke Marihuanaschwaden durch die Arenen zogen. Einer der schönsten Songs der jüngeren Popgeschichte ist ganz sicher Jeff Buckleys »Hallelujah«.
Das Religiöse zeigt sich in Amerika in allen Schattierungen. Es nimmt die wundersamsten, aber auch bizarrsten und wahnsinnigsten Maskeraden an. Es war mit den marschierenden Bürgerrechtlern und inspirierte die Drop outs. Es beflügelte die Rechte, aber auch den Demokraten Jimmy Carter und seine Wähler, die den Watergate-Sumpf bereinigt sehen wollten. Ronald Reagan wurde von den religiösen Rechten ins Weiße Haus getragen, Bill Clinton zog sich deren Zorn zu wegen seines Lebenswandels.
In den Clinton-Jahren war die amerikanische Religion domestiziert. Sie wurde in den Jahren der Internetmillionäre ersetzt
durch einen beispiellosen Konsumismus. Sicher, es gab grimmige Nester der religiösen Rechten, es gab militante Abtreibungsgegner, es gab eine sich neu formierende politische Bewegung von Evangelisten und Fundamentalisten. Es gab aber auch die Bibel und das Wort Gottes in den schwarzen Kirchen, die gleichzeitig Trost und Kampfproviant in den Rassenunruhen nach dem Rodney-King-Prozess spendeten. Doch insgesamt war die Religiosität in den 90er Jahren die innige, aber unaufgeregte Begleitmusik zu einem unaufgeregten Alltag.
All das änderte sich nach dem islamistischen Anschlag auf das World Trade Center. Die amerikanische Religiosität erhitzte sich zur Weißglut. Sie verlangte, ganz alttestamentarisch, nach Rache. Die amerikanischen Kriege, die folgten, trugen unverkennbar religiöse Züge. Sie wurden mit der Rhetorik von Kreuzzügen ausgestattet. Seither ist dieser religiöse Muskel nicht mehr zur Ruhe gekommen.
Ich hatte das Land damals bereist, in den 90er Jahren, um über die religiöse Rechte, aber auch die schwarzen Bürgerrechtler-Pastoren zu berichten. Im letzten Jahr habe ich es erneut befahren auf den Spuren des großen amerikanischen Schriftstellers und Spötters Mark Twain, der so düster mit Gott haderte wie
Weitere Kostenlose Bücher