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Das katholische Abenteuer - eine Provokation

Das katholische Abenteuer - eine Provokation

Titel: Das katholische Abenteuer - eine Provokation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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innigeren Engagement der Gemeinde. So ist es auch selbstverständlich, etwa in der Suppenküche zu arbeiten, die sonntags nach der Messe die Armen versorgt. Wer hat, der gibt, und wer nicht so viel hat, hilft. Das Kommune-Prinzip lebt, auch im religiösen Alltag.
    Unser Sohn wurde hier getauft, und es konnte keinen gütigeren und klügeren Seelsorger geben als Father O’Connor, der in seinen Predigten die frohe Botschaft tatsächlich strahlen ließ, tolerant und umfassend und alle einschließend. Das ist das freundliche Gesicht amerikanischer Religiosität, insbesondere des amerikanischen Katholizismus, wie ich ihn kennengelernt habe.
    Bisweilen gingen wir sonntags zur Messe zu den Baptisten in der Abyssinian Church nach Harlem. Ich mochte die Gospel-Chöre und war berührt vom religiösen Gefühlsüberschwang, der sich dort in Bekenntnissen und Freude und Tränen zeigt. So herzensnah war Religion früher, stelle ich mir vor, der heilige Augustinus berichtet in seinen Bekenntnissen vom Überschwang der Seele, von Singen, Tanzen, Weinen. Zum ersten Mal besuchte ich sie nach den Unruhen um den Rodney-King-Prozess. Ein Schwarzer war von vier weißen Polizisten halb tot geprügelt worden. Ein Video existierte. 56 Schläge in 81 Sekunden. Die Weißen wurden freigesprochen, von einer weißen Jury. Danach brannte Los Angeles.
    Besonders faszinierte mich der Pastor der Gemeinde, Reverend Calvin Butts. Seine Predigten waren grandiose dramatische Kunstwerke, sie konnten Donner und Blitz herabbeschwören und dann wieder den Himmel aufreißen und die Gesichter leuchten lassen. Er mischte Politik mit Alltagssorgen, brachte
Hoffnung und Zutrauen und Stolz in die schwarze Gemeinde, er war politisch auf der Seite der Demokraten, moralphilosophisch aber konservativ.
    Unter den rund 400 Kirchen in Harlem nimmt die »Abessinische« eine Sonderstellung ein. Schwarze Kaufleute haben sie in den Tagen der Apartheid gegründet; sie mochten nicht länger hinnehmen, dass sie bei den weißen Baptisten auf gesonderten Bänken zu sitzen hatten. Die Chöre und Solisten der Abessinischen Kirche singen in der Carnegie Hall. Und ihre Reverends machen Politik – etwa Pastor Adam Clayton Powell, der die Bürgerrechtsbewegung in New York anführte. Und nun ist es Reverend Calvin Butts, dessen Stimme die profilierteste in ganz Harlem ist.
    Calvin Butts, ein Intellektueller mit scharfem Verstand und dem Charisma eines Filmstars. An diesem Sonntag nach den Aufständen, den Plünderungen, den Bränden lagen Ratlosigkeit und Wut in den Gesichtern und die Erwartung einer Antwort, eines Kampfaufrufes vielleicht, eines Aufschreis. Doch Calvin Butts, der an den jungen Sidney Poitier erinnerte, stand dort vorn in seiner blauen Robe, senkte den Kopf und stellte die härteste aller Forderungen: »Lasset uns beten für unsere Feinde, auch für die Jury, die das tragische Urteil im Rodney-King-Prozess gefällt hat, auch für die Polizisten, lasset uns beten.« Und die Gemeindemitglieder murmelten: »Amen.« Und dann sang der Chor, achtzig Frauen und Männer in roten Roben, die »Schöpfung« von Haydn.
    Eine Messe der Versöhnung? Vielleicht, für einige. Eine Messe frommer Resignation? Nie und nimmer, für keinen der tausend Gläubigen. Denn nun kam Calvin Butts zur Sache. Sagte, worauf sie alle warteten: »Wir dürfen nicht alles Gott überlassen.« Und indem er die Stimme erhob: »Jesus hat sich eingemischt in die Angelegenheiten der Gesellschaft.« Aus den Bänken kamen zustimmende Rufe. »Jesus sagt, ich bin nicht gekommen, euch den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.«

    Dann las Butts Namen vor – von Teenagern, von jungen Malern, von Studenten, von Obdachlosen, die nichts gemeinsam haben, außer dass sie schwarz sind und tot. Umgekommen durch Polizistenhände. Der Kirchensaal kochte. »Wenn ihr noch nicht von der Polizei verprügelt worden seid«, sagte der Prediger und ließ seinen Blick über die herausgeputzten Gemeindemitglieder schweifen, »dann habt ihr einfach Glück gehabt bisher.« Hinter ihm bündelte sich Licht, das durch die Kirchenfenster fiel, blau und glutrot und grün, und Butts spielte mit den Stimmungen seiner Gemeinde in allen Farben der Rhetorik. »Wir Schwarzen haben in diesem Land keine Chance. Wir alle haben das Video gesehen. 56 Schläge in 81 Sekunden!« Nun standen sie in den Bänken und feuerten ihren Reverend an; schließlich wurde dieser Gottesdienst doch noch ein Gospel der Wut, aber mehr noch des Schmerzes: über das

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