Das katholische Abenteuer - eine Provokation
Lugari, der über die Zeiten hinweg Thomas Morus’ Utopia weiterträumt. Berührt haben mich die Bekanntschaften mit Allen Ginsberg und William Burroughs. Mit dem einen meditierte ich, mit dem anderen schoss ich in der Prärie auf Zielscheiben – beide schlugen poetisches Kapital aus ihren biografischen Verwüstungen und waren Anti-Götzen, wundervolle, tiefe, geheimnisvolle Menschen.
Solche Schicksale, solche Biografien, solche Außenseiter-Siege sind befriedigender Erzählstoff. Womöglich sind sie auch unverstellter durch jene Posen, die Idole einzunehmen haben. Die wirken oft wie Gefangene der Erwartungen ihrer Fans. Im Umgang mit ihnen geht es ja nie nur um Ruhm, sondern auch um Erlösungsträume. Die Berühmtheit soll etwas für uns tun: Sie soll unser Leben verbessern und unsere Sehnsüchte vergolden. Idole müssen sich unsere Anbetung verdienen, jeden Tag aufs Neue – tun sie es nicht, kann die Verehrung bisweilen blitzschnell in Aggression und Hass umschlagen. Dann werden Götzenbilder zertrümmert.
Die Samba-Göttin Carmen Miranda bezauberte in den 30er Jahren die ganze brasilianische Nation – doch sie wurde von der Bühne gepfiffen, als sie begann, in Hollywood zu arbeiten. Sie hatte der Heimat den Rücken gekehrt und galt fortan als Verräterin. Erst nach ihrem tragischen Ende, nach ihrer Heimkehr im Sarg, versöhnte sich die Nation wieder mit ihr – Hunderttausende begleiteten schluchzend den Trauerzug.
Als Todesursache wurde eine Überdosis Tabletten angegeben. Über die Ursache dahinter sind sich ihre Landsleute einig: Carmen Miranda war zerbrochen an der Frage: »Wer bin ich, wo gehöre ich hin?« Die Hand der Toten hielt einen Spiegel. Auch das ist Schicksal von Idolen.
Es geht also um die Götzen unserer Zeit, in denen wir uns spiegeln, um ihren Schmelz, ihre Geheimnisse – und um die heimlichen Helden, die eines verstanden haben: dass Ruhm nichts ist und Lebensglück nicht im Rampenlicht, sondern im eigenen Herzen zu finden ist.
Unsere Sehnsucht nach Idolen kann ja ebenso zur Falle werden wie die eigene Sucht nach Ruhm. Als Ausweg empfiehlt Georg Franck in seinem Buch daher: eine größere Selbst-Aufmerksamkeit, eine gesteigerte Wachheit für die Wunder des eigenen Lebens. Wahre Aufklärung heißt ja nicht, dass wir über Gott triumphieren. Nein, siegreich ist die Aufklärung erst dann, wenn wir es schaffen, ohne Götzen zu leben.
Nicht zuletzt: Engel!
Eine Meditation über Engel am Ende des letzten Jahrtausends samt Anleitung zu einer imaginären Ausstellung
Wie begegnet man einem Engel? Mit Staunen und Schweigen, mit leiser Auflehnung oder innerer Zustimmung? Haben alle Engel Flügel? Und worin unterscheidet sich ein Seraph von einem Cherub?
Von all diesen Fragen – und handfesten Theaterproblemen – hatte Tony Kushner noch nicht die geringste Ahnung, als er sich Ende der hedonistischen 80er Jahre hinsetzte, um ein Stück über Aids zu schreiben. Der Plan sah ein Fünf-Personen-Drama vor, rund neunzig Minuten Spieldauer ohne Pause. Ach ja, Roy Cohn, der New Yorker Prominentenanwalt, sollte drin auftauchen.
Dann ist Kushner von seinem Material, von Figuren und Dämonen überwältigt worden. Drei Jahre später gab er ein siebenstündiges Mysterienspiel in zwei Teilen ab, ein Stück über den Zustand der amerikanischen Gesellschaft vor der Jahrtausendwende.
Lange ist das Theater nicht mehr so aufs Ganze gegangen. Kushner setzt Himmel und Hölle in Bewegung. Er führt durch ein apokalyptisches Spiel, das von Aids handelt und der Liebe, von Schizophrenie und Verrat. Er führt nach Salt Lake City und in die Antarktis. Er liefert eine Vivisektion des verrotteten Nihilismus der Reagan-Jahre und der selbstgerechten, politisch korrekten Besserwisserei der neuen Ära. Er debattiert jüdischen Selbsthass und christliche Bigotterie. Und er beendet seinen ersten Teil mit einer Offenbarung: Der Engel erscheint.
Wer sagt, dass Kritiker immun gegen Erlösungsfantasien sind? Schon in der Uraufführung der »Engel in Amerika« in Los Angeles sah Frank Rich, Chefkritiker der New York Times, das
Theater gerettet und die Gesellschaft revolutioniert. Selten hat ein amerikanisches Stück noch vor seiner Broadway-Premiere derartig auf ganzer Linie gesiegt.
Das Stück mutet dem Broadway-Publikum viel zu. Es zeigt Liebe unter Männern. Es zeigt den nackten, dünnen, zerbrechenden Körper der an einer HIV-Infektion sterbenden Hauptfigur Walter Prior. Die wahrscheinlich größte Zumutung
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