Das katholische Abenteuer - eine Provokation
aber ist der Durchbruch des Heiligen in das Profane, die Epiphanie des Göttlichen ausgerechnet im Sterbezimmer eines Aids-Kranken. Es ist der Engel der Verkündigung, der Prior erscheint, und er begrüßt den Kranken als »Propheten«. Wie aber begegnet man einem Engel?
Eine der genauesten Beschreibungen in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur hat Harold Brodkey in seiner Kurzgeschichte »Engel« geliefert. Seinem Helden Wiley Silenowitz erscheint der Seraph auf dem Campusgelände der Harvard-Universität. Wie in den großen mystischen Texten wird die Erscheinung mit großer gedanklicher Klarheit und Selbstverständlichkeit beschrieben.
Wiley sieht das Göttliche, und er überlebt, und er ist erstaunt darüber. Er erwartet, dass diese »letzte Wahrheit« alle hinwegraffen würde an diesem Nachmittag auf dem Campusgelände, doch: »Der Engel beendete mein Leben nicht.« Er empfindet »rauschendes Vergnügen«. Er ist beeindruckt von der Schönheit des Engels, er fühlt sich gedemütigt, er spielt mit dem Gedanken, auf die Knie zu sinken – und er bleibt zurück mit Kopfschmerzen und einer Erektion.
Prior, der Auserwählte in Kushners Stück, kann zunächst nur über die mächtigen Licht- und Soundeffekte stammeln, mit denen der Bote seinen Auftritt vorbereitet. Es kracht, und der Putz bröckelt von der Decke und violettes Licht wechselt mit rotem und grünem. »Ziemlich Steven Spielberg«, sagt Prior sarkastisch, was ebenfalls eine ziemlich verständliche Reaktion ist – wie sonst wenn nicht sarkastisch soll er mit dem heiligen Schrecken fertig werden?
Anders als etwa in Wim Wenders’ Film Der Himmel über Berlin , in dem die Schutzengel Menschengestalt angenommen haben, zeigt sich der Engel in Kushners Stück in seiner Himmelsgestalt : weißes Gewand, große weiße Flügel. Aber dieser Engel schwebt nicht anmutig – er kracht durch die Decke, er bricht herein wie eine Katastrophe, und die Seilzüge bringen ihn ruckartig zum Stillstand. Man weiß nicht genau, ob dieser Engel Tröstung bedeutet oder eine apokalyptische Panne.
Der Engel, der diesen ersten Teil des Dramas beschließt, wird im zweiten, dem noch kühneren, als Engel der Beharrung und des Todes deutlich. Prior kämpft mit diesem Engel, wie Jakob in der wohl berühmtesten Engel-Geschichte des Alten Testaments, und er protestiert gegen den göttlichen Sendboten, der ihm ewige Geduld, ewiges Ausharren abverlangt: »Wir können nicht ewig aushalten und warten. Wir müssen immer weiter gehen. Das ist unsere Natur.«
Drei zeitgenössische Künstler, die sich mit Engeln befassen: Der Theatermann Tony Kushner ist erklärter Marxist. Auch der Schriftsteller Harold Brodkey steht nicht im Verdacht, schwärmerische religiöse Traktate zu verfassen. Der deutsche Filmregisseur Wim Wenders entstammt der Generation der politisch unruhigen 60er Jahre. Drei intelligente, skeptische, aufgeklärte Köpfe, die mit allergrößter Selbstverständlichkeit Engelsgestalten ins Zentrum ihrer Kunstwerke stellen. Und alle drei können damit rechnen, dass sie verstanden werden. Woher stammt diese Selbstverständlichkeit? Und was fasziniert diese Künstler ausgerechnet an Engeln?
Die erste Frage ist schnell beantwortet: Wir können davon ausgehen, dass Figuren mit Flügeln zu den ältesten Archetypen der Menschheit gehören. Noch bevor es die großen kodifizierten Religionen gab, tauchten in den Träumen und Geschichten der Völker, in ihren Sagen und Legenden Engelsgestalten auf, die sich als Bilder ins kollektive Unbewusste gesenkt haben. Um es einfach zu sagen: Jedes Kind weiß, was ein Engel ist.
Die Beantwortung der zweiten Frage ist ein wenig komplizierter. Hier ein Versuch: Engel sind nicht Gott und nicht Mensch. Sie sind Mittler zwischen Himmel und Erde. Sie wissen mehr, als wir wissen. Wir sind mittlerweile über eine Jahrtausendgrenze gestoßen, immer noch von millennischer Nervosität, vor uns eine Welt aus Unsicherheiten. Wir möchten wissen, wie es mit uns weitergeht, jenseits dieser Grenze, jenseits aller Grenzen. Engel sind Grenzgänger.
Wir ahnen, dass wir uns neue und andere Fragen zu stellen haben als bisher, intuitivere, träumerischere. Das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrtausends hat einen Göttersturz erlebt. Die Marx- und Lenindenkmäler Osteuropas wurden geschleift. Die letzte säkulare Heilshoffnung der Menschheit war geplatzt wie eine Seifenblase. Neue Verdunkelungen heißen Terror, Krieg der Kulturen, die ökologische Katastrophe,
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