Das katholische Abenteuer - eine Provokation
labile Mischung aus Prägungen und Gewohnheiten und molekularen Dispositionen. Das beweisen auch die wunderbaren Fallgeschichten des Neurologen und Schriftstellers Oliver Sacks, der von hirngeschädigten Patienten berichtet, die sich für einen Apfel hielten und ihre Frauen mit einem Hut verwechselten. Unsere Welt ist voll von Tücken und optischen Tricks und philosophischen Hypothesen und lebensgeschichtlichen Halluzinationen.
Im Grunde genommen weiß ich nicht, wer ich bin, wer das ist, der da der Welt mit meinen Augen gegenübertritt und sie erkennt und interpretiert und seine Schlüsse zieht, aber ich sage »ich«, denn ich glaube, dass es mich gibt. Ohne diesen Glauben käme ich nicht durch den Alltag. Wir alle glauben, sobald wir den Mund aufmachen. Wir glauben, dass der andere versteht, was wir sagen. Besonders wir Journalisten glauben. Nämlich dass Sinn in dem liegt, was wir schreiben, und dass die Leser diesen Sinn entziffern werden. Gut, einige von uns haben aufgehört, daran zu glauben. Vielleicht haben sie schlechte Erfahrungen gemacht, mit sich oder ihren Lesern oder der prinzipiellen Möglichkeit, verstanden zu werden, aber dann sind sie entweder betrunken oder Linguisten.
Aber auch abgesehen von der menschlichen Kommunikation: Schon die Bewältigung unseres Alltags kommt ohne Glauben nicht aus. Ich habe die Konstruktionspläne unseres Fahrstuhls noch nie eingesehen und auch die letzten Wartungsprotokolle nicht, aber ich glaube einfach mal, dass er kommt, wenn ich auf den Knopf drücke. Es wäre unvernünftig, nicht daran zu glauben. Man nennt das Alltagsvertrauen.
Ist es nicht sonderbar, dass wir selbst in der Sphäre nüchterner pragmatischer Problemlösungen von unseren Politikern vor allem erwarten, dass sie glaubwürdig sind? Glaube, stellen wir fest, ist ein ganz besonderer Stoff. Wir glauben an den Sinn unserer Rechtsordnung. Wir glauben, dass wir Theater brauchen
und Sonne und Sinfonieorchester und Freundschaften und den Wald und dass es gut ist, Sport zu treiben.
Noch einmal zu unseren Messfanatikern mit Zollstock und Waage: Selbst die exakteste Wissenschaft kommt ohne ständige Rückgriffe auf den Glauben nicht aus. Und die Meinung, dass die Arbeit eines Wissenschaftlers ständig auf belegbaren Annahmen beruhe, ist selber ein Reflex blinden Glaubens. Der Wissenschaftler verlässt sich auf Forschungsergebnisse von Kollegen. Er vertraut ihnen. Wenn wir uns in den Bereich der theoretischen Mathematik begeben, ist das wie der Grottenbesuch in Lourdes. Da türmen sich Annahmen auf Hoffnungen auf Erleuchtungen auf weitere Annahmen, sodass die spekulative Energie allein ausreichen würde, die wissenschaftliche Glaubensarena in strahlendes Licht zu tauchen. Und immer wieder gibt es Besonnene wie den Physiker Werner Heisenberg, den seine Forschung und seine Weisheit demütig gemacht haben und der erkannte: »Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.«
Wir glauben ständig an das eine oder andere Unbewiesene, das ist die Definition von Glauben. Man sollte Leute, die für alles Beweise haben wollen, meiden, aber außerhalb von Irrenanstalten trifft man sie auch eher selten. Manche schreiben mir, dem Zeitschriftenredakteur, Briefe. Ach was, dicke Konvolute mit Zeichnungen und Beschreibungen und mathematischen Formeln, in denen sie lückenlos belegen, dass sie von ausländischen Geheimdiensten mit Sendern am Kopf angepeilt und gequält werden.
Ständig ist unser Gehirn damit beschäftigt, das, was wir sehen, zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen und Fehlstellen zu ergänzen. Wir konstruieren. Wir vertrauen. Wir glauben. Ohne Glauben geht es nicht.
Nun aber weiter. Ein Kind glaubt, dass es von seinen Eltern geliebt wird. Man nennt so was Urvertrauen. Fehlt dieses Urvertrauen, wird unser Sprössling später womöglich auf der Couch eines Analytikers liegen. Wenn er es bis dahin geschafft
hat und nicht vorher Amok gelaufen ist oder einen Weltkrieg angefangen hat.
Mit diesem Urvertrauen kommen wir dem religiösen Glaubenserlebnis schon sehr nahe, nur daraus resultiert die Kühnheit, dass wir Christen den Schöpfergott mit »Vater« anreden.
Schöpfergott?
Hm. Wir müssen noch mal zurück, weit zurück.
Die Wissenschaften können uns die Entstehung des Lebens erklären, aber nicht, warum es überhaupt Leben gibt. Sie können die Entstehung des Kosmos aus dem Urknall erklären, aber nicht, was davor lag. Den ersten
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