Das katholische Abenteuer - eine Provokation
Heiligen Nacht.
Mehr als achtzehn Jahre später ist Kassensturz im Osten: »Kassa Blanca« heißt das Programm des Leipziger Kabaretts »Pfeffermühle«, das einst, unter sozialistischen Bedingungen, eines der muntersten war. Mittlerweile ist es verkommen zu einem Touristenbums ohne wahren Biss: Ein wenig Parteienverdruss, ein bisschen Hartz-IV-Lamento, zwei schweinische Pikanterien, das wäre es dann schon. Auszug aus dem Programmheft: »Früher war Deutschland ein reiches Land, heute ist es ein Land der Reichen«. Früher? Wie viel früher? Zwanzig Jahre?
Es hat sich einiges getan seither, und Leipzig gehört zu den Gewinnern. Kaum irgendwo ist die Aufbauhilfe Ost schöner sichtbar als hier, am neuen Standort der »Pfeffermühle« in der Gottschedstraße, die an diesem Abend mit ihren Straßencafés und Restaurants und Diskotheken aussieht wie ein römischer Sommertraum.
Ja, was die Großwetterlage angeht, haben die Kabarettisten recht, auch wenn es an diesem schönen lauen Sommerabend nicht direkt ins Auge springt: Die Gesellschaft ist tatsächlich in Arm und Reich auseinandergefallen. Aber man muss doch keine Alleinerziehende mit zwei Kindern erfinden, die nebenbei an der Tankstelle und im Puff arbeitet, um Lacher zu erzielen.
»Kassa Blanca«. Leere Kassen, der Kollaps der Zocker, was für eine Steilvorlage für linke Lacher im Osten. Stattdessen: eine Elvis-Parodie mit dem Titel »Ich brauch netto« sowie pädagogisch Wertvolles zum Kampf gegen Rechts, was das ältere Publikum wohlwollend nickend mit Zustimmung quittiert.
In der Pause in der Garderobe möchte man wissen: War politisches Kabarett womöglich doch aufregender im alten sozialistischen System, als man Kopf und Kragen riskierte oder zumindest Exkommunikation, sobald man gegen die reine Lehre verstieß?
Ach, sagt da Kabarettisten-Veteran Marco, »war im Prinzip doch das Gleiche, war immer Klassenkampf.«
»Um Gottes willen, hör auf!«, sagt da die blonde Ute und springt auf und geht hinaus.
»Na ja, nicht ganz«, lenkt Marco ein, »heute wird man wegen einer misslungenen Pointe nicht gleich abgeführt.« Die Blonde kommt nicht zurück.
Jan, der Jüngste, sieht im Crash der Märkte so etwas wie die Rache Gottes an den Amerikanern. Für das, was sie mit ihren Autos der Umwelt antun. Das macht zunächst keinen Sinn, hat aber eine gewisse alttestamentarische Logik.
Er schaue keine Nachrichten, sagt der Junge. Er bezieht seine Infos über YouTube, das ist nicht manipuliert. Dort übrigens
wurde der lückenlose Beweis erbracht, dass der Anschlag des 11. September von den USA selbst inszeniert worden war. »Ein Inside-Job.«
Vielleicht ist auch das eine Folge der Globalisierung: nicht nur der Beschleunigungskollaps des Marktes, sondern auch der herkömmlichen Nachricht. Der Dramatiker Heiner Müller hatte nach dem Mauerfall genau das prophezeit: Hitzetod durch Beschleunigung.
Marco denkt in traditionelleren Spuren über die Wirtschaftskrise. Er glaubt, dass der Kapitalismus in Leipzig und im Rest der Welt wieder auf die Beine kommt. »Ist nur ein zyklischer Schwächeanfall – lässt sich alles bereits bei Marx nachlesen.«
Das wäre dann die jüngste Pointe der Marxisten im Umgang mit dem Kapitalismus – sie nehmen seine Rückschläge nicht sehr ernst. Sie trauen ihm offenbar mehr zu als er sich selber.
Rund 120 000 Besucher laufen die Rotkäppchen-Kellerei im Jahr an, und an diesem schwarzen Donnerstag des Jahres 2008, an dem der Dow Jones weitere sieben Prozent abgibt und in einer Panikspirale die Börsen der Welt ein weiteres Stück mit sich reißt, steht eine Gruppe von der Schulbehörde bei der Verkostung auf dem Parkplatz zusammen.
»Rotkäppchen« ist eine der überzeugendsten kapitalistischen Erfolgsgeschichten im Osten. Ihr ehemaliger VEB-Geschäftsführer Heise kaufte sie 1993 der Treuhand ab und verwandelte sie in die mittlerweile zweitgrößte Sektkellerei der Welt. Zunächst hatte er die Belegschaft von 450 auf 50 reduziert, dann die Produktpalette vergrößert und später dazugekauft, Mumm und Eckes-Kirschlikör. An die Börse ging er nicht, er wollte Herr im eigenen Laden bleiben. Heute beschäftigt er über 500 Mitarbeiter und hat den Ort wieder hinter sich gebracht.
Sektkelche mit halbtrockenem Rosé also, um elf Uhr vormittags, Prösterchen. Nach einem letzten Tanz auf der Titanic
sieht das überhaupt nicht aus, kein Mensch hier glaubt, dass die Welt untergegangen ist, zukunftsfroher geht es gar nicht.
»Ist doch
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