Das katholische Abenteuer - eine Provokation
Glaubenswahrheiten ausspricht, aus einer tiefverwurzelten Volksfrömmigkeit heraus, aber dabei auch dogmatisch Spur hält.
Er ist erster Hüter des Glaubens und der Tradition, und darin ist er mutig und von schöner Naivität. Zum Beispiel, wenn er auf seiner Englandreise anmahnt, dass die Insel in ihrem »aggressiven Säkularismus« den Respekt vor »traditionellen Werten und kulturellen Ausdrucksformen nicht verlieren« möge. Oder wenn er in der Westminster Abbey beschwört: »In einer Gesellschaft, die der christlichen Botschaft zunehmend
gleichgültig oder sogar feindlich gegenübersteht, sind wir umso mehr in der Pflicht, zu zeigen, dass der auferstandene Herr die Antwort auf die tiefsten Fragen und die geistigen Sehnsüchte der Menschen unserer Zeit ist.« Spricht man so in Zeiten von Dschungelcamp und MTV?
Hauptpastor Johannes Hinrich Claussen schreibt in seinem Buch Zurück zur Religion nicht ohne Faszination aus dem protestantischen Nachbargarten herüber: »Die Wojtyla-Ratzinger-Strategie ist die einzige, die Erfolg verspricht. Um wahrgenommen zu werden, muss die katholische Kirche eine geschlossene Fassade bieten … Welcher Vertreter einer demokratisierten Kirche könnte in vergleichbarer Weise die Kameras auf sich ziehen und die Massen in den Bann schlagen? Der Sprecher der Bewegung ›Kirche von unten‹, die Schriftführerin der Initiative feministischer Theologinnen oder der Sicherheitsbeauftragte der kirchlichen Mitarbeitervertretung?«
Papst Benedikt versuchte neue Annäherungen an die orthodoxe Kirche, er brachte die abtrünnigen Pius-Brüder wieder zurück in die Una Sancta – mit dem tragischen Versehen, den absonderlichen Holocaust-Leugner Bischof Wiliamson gleich mit salviert zu haben. Eine, wie er später eingestand, fürchterliche Panne.
Doch schon mit seiner Regensburger Rede, die den Dialog mit dem Islam neu eröffnen und gleichzeitig eine Diskussion über das Verhältnis von Glaube und Vernunft anstoßen wollte und die naiv und gutmeinend vorgetragen war, meldeten sich die Katholizismus-Skeptiker und Kirchenverächter zurück.
Im Missbrauchsskandal, der Anfang des Jahres 2010 Wellen schlug, gingen dann alle Sympathien verloren, die in den Jahren zuvor erworben worden waren. Die Öffentlichkeit beschloss, die Worte der Trauer und der Entschuldigung zu überhören, die der Papst in seiner Predigt am Psalmsonntag 2010 für diese Verbrechen fand. Und sie übersah (vielleicht weil sie die theologische Tragweite nicht begriff), dass er das kollektive Schuldbekenntnis am darauffolgenden Karfreitag in die Fürbitten, also
ins Zentrum der Liturgie und damit in den Kern der Kirche selbst nahm.
Insbesondere britische Intellektuelle wie Christopher Hitchens und Richard Dawkins hatten in der Missbrauchsdebatte gegen den Papst mobil gemacht. Publikumswirksam sprachen sie davon, den Papst verhaften zu lassen, sollte er zum Staatsbesuch englischen Boden betreten. Ich hatte einige Jahre zuvor mit Hitchens Kontakt. Da ging es darum, dass er Henry Kissinger verhaften lassen wollte. Allerdings schwenkte er kurz darauf ins Lager der kriegsführenden republikanischen Falken über und vergaß seine moralische Empörung über den »Völkermörder«.
Diesmal also Verhaftungspläne gegen den Papst. Wegen Anstiftung oder Beihilfe zum Missbrauch und logisch auch ja irgendwie Völkermord (wegen Kondomverbot und Aids und so weiter), von den vielen anderen Straftatbeständen (deutsch, unverheiratet, gläubig) ganz zu schweigen. Diese »Eruptionen militanten Atheismus«, so der FAZ-Kommentator Daniel Deckers, gingen einher mit »einem Antikatholizismus … der sich längst als Antisemitismus der Intellektuellen entlarvt hat«.
Allerdings wurde England auch zum Wendepunkt der antipäpstlichen Kampagnen. Der Papst gab ein kluges Interview, in dem er den Briten zu ihrer »finest hour« gratulierte: zum heldenhaften Widerstand gegen das gottlose Regime der Nazis. Und dann gestand er seine Trauer über die Missbrauchsfälle und verurteilte tief bewegt und glaubhaft die Verbrechen, die katholische Priester in diesem Zusammenhang begangen hatten.
Vorweg muss man feststellen, dass religiöse Abgestumpftheit kein Privileg der Briten ist. Eigentlich weiß keiner so genau, was dieser Mann im weißen Gewand mit seiner merkwürdigen Botschaft will. Diese Gestalt hat nicht direkt mit Kino oder Fußball oder Wirtschaftswachstum zu tun. Meistens berichten kirchenferne oder kirchengleichgültige Ignoranten, und da kommt es
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