Das Kellerzimmer - Gesamtausgabe
sich zu und schnallte sich den Rucksack auf den Rücken. Puh, ganz schön schwer! Sie hatte eindeutig zu viele Sachen eingepackt. Unsicher hielt Kimberley kurz inne, stürmte dann zurück ins Haus und rannte in ihr Zimmer. Dort schmiss sie die schwersten Kleidungsstücke zurück in den Schrank und verzichtete auch auf die Ballerinas. Die Chucks an den Füßen mussten reichen. So war es schon besser. Kimberley machte sich erneut auf den Weg und rannte zur Bushaltestelle. Am liebsten hätte sie gleich angefangen mit dem Leben im Untergrund und sich als Schwarzfahrerin versucht. Aber ihre Busfahrkarte galt im gesamten Stadtgebiet.
Aufgeregt sah Kimberley aus dem Fenster. Lief man von zu Hause weg, fühlte sich so eine Busfahrt gleich ganz anders an. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie auch nicht mehr zur Schule gehen musste! Sie lächelte und lehnte sich zurück. Ab jetzt würde sie cooler und lockerer werden. Ein gechilltes Leben als Straßenmädchen, selbstbewusst und ein bisschen abgebrüht. Ihre Mutter hatte schließlich immer vom Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ geschwärmt. Sie war also selbst schuld, dass Kimberley andauernd an Christiane F. denken musste und sich mit ihr verglich. Gut, sie hatte noch nie etwas mit einem Jungen gehabt und schon gar nicht Drogen ausprobiert. Aber irgendwie reizte sie das alles. Erst einmal würde sie dramatisch abmagern und unheimlich süß aussehen.
Ihr kam eine Idee. Es wäre total langweilig und auch teuer, wenn sie nur mit der Bahn fahren würde. Sie könnte ja auch nach Hamburg trampen! Ihre Eltern würden sie umbringen, wenn sie davon erfuhren. Auch sie selbst hatte Angst vor fremden Männern in unbekannten Autos. Ach was, so viele trampten heimlich. Sie wollte cooler werden und das war ihre erste Bewährungsprobe. Kimberley wurde bewusst, wie wenig Ahnung sie vom Leben hatte. Sie hatte noch nicht einmal einen Schimmer, wo sie sich überhaupt hinstellen sollte, um nach Hamburg zu trampen. Bis jetzt hatte sie sich immer in Papas Autos gesetzt und auf gar nichts geachtet. Sie war eine richtig verwöhnte Prinzessin. Ein letztes Mal würde sie einen auf reiches Töchterlein machen, es half alles nichts. Sie setzte sich am Bahnhof in ein Taxi und bat die Fahrerin, sie an der Autobahn nach Hamburg rauszulassen.
„Na, junges Fräulein“, guckte die Frau skeptisch in den Rückspiegel, denn Kimberley hatte sich natürlich nach hinten gesetzt, wie man das in Kinofilmen auch immer machte, „was willst du denn an der Autobahn?“
„Ich warte dort auf meinen Onkel, der holt mich ab.“ Angestrengt starrte Kimberley aus dem Fenster.
„Soso, dein Onkel. Wissen deine Eltern denn von deinem Ausflug? Nicht, dass du eine kleine Ausreißerin bist und ich dich hier durch die Weltgeschichte kutschiere. Ich würde das jedenfalls meiner Tochter nicht erlauben.“
„Meine Eltern wissen Bescheid. Ich muss da jetzt echt schnell hin, bitte.“
„Gut, wenn du meinst. Aber Geld hast du genug dabei, hoffe ich.“
„Ja. Was kostet denn die Fahrt?“
„Ganz billig ist das nicht, sind ja ein paar Kilometer. Das werden wohl so 40 Euro werden, schätze ich. Hast du die?“
„Natürlich.“
Kimberley wurde heiß. So viel Geld ging für diesen Blödsinn drauf – das war sehr ärgerlich. Heute gäbe es nur noch einen Apfel und sonst nichts. Eigentlich freute sie sich auf Cheeseburger und Pommes, aber das würde sie sich wohl lieber verkneifen, sonst wäre sie bereits in einer Woche pleite. Als sie endlich angekommen waren, ließ die Taxifahrerin sie an einem kleinen Parkplatz raus.
„Wir sind da. 42,50 macht das. Du gehst jetzt nur da vorne um die Ecke, dann bist du da. Oder wo kommt dein Onkel hin?“
„Nee, nee, das ist schon richtig, wir wollten uns, glaube ich, hier treffen. Ich ruf ihn gleich mit dem Handy an und frag nach. Also, danke schön.“ Kimberley trennte sich schweren Herzens von ihrem Geld und sah zu, dass sie nach draußen kam. Als das Taxi verschwunden war, stellte sie sich an die Straße, direkt unter das Schild, auf dem groß „Hamburg“ stand. Den Rucksack stellte sie zwischen ihre Beine. Keine Angst, redete sie sich gut zu. Dann ging alles ganz leicht. Den Daumen raushalten, so wie sie es bisher nur bei anderen nebenbei gesehen hatte. Und ein bisschen lächeln, aber nicht zu viel. Hoffentlich würde kein Triebtäter anhalten! Noch so ein perverser Typ wie in Suhrhoffs Keller und sie würde durchdrehen. Aber so viel Pech konnte kein Mensch haben.
Die
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