Das Keltenkreuz
ähnlich, aber wohl nicht so extrem, zumindest nicht beim ersten Hinschauen.«
»Das meine ich auch, denn schließlich haben wir einige Tote oder Verschwundene zu beklagen. Uns fehlen noch sechs Männer.«
Der Mönch hatte uns zugehört, ohne uns zu unterbrechen. Er fing wieder an zu sprechen. »Laßt das Kreuz in Ruhe!« warnte er. »Laßt es um Himmels willen in Ruhe! Geht wieder weg. Keine Experimente. Andere haben es versucht und…«
»Was?« fragte ich, als er nicht mehr weitersprach.
»Weg.«
»Auch tot?«
Der Mönch verdrehte die Augen und schaute mich an. »Man kann so tot und so tot sein.«
Es war eine Antwort, die mir nicht paßte. So hakte ich nach. »Aber Sie wissen genau, von wem hier die Rede ist?«
»Ja, das weiß ich. Von den Männern, die auf die Insel gekommen sind, um das Kreuz zu stehlen. Sie waren hier. Sie haben es versucht, aber sie haben es unterschätzt. Es gehört hierher. Es ist ein Teil der Insel, ein Stück Geschichte. Das haben wir ihnen auch gesagt.«
»Sie hörten nicht?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf, und es sah traurig aus.
Ich glaubte fest daran, daß dieser Mönch mehr wußte. Es würde nicht leicht sein, ihm alles zu entlocken, aber ein Versuch konnte nicht schaden. »Haben sie es denn schon aus der Erde holen können? Oder wie weit sind sie damit gelangt?«
»Nein, das nicht. Aber sie wollten es tun. Sie haben erst nur geschaut, und sie sprachen davon, daß sie Werkzeug holen würden, um es in ihren Besitz zu bringen.«
»Was ist dann geschehen?«
»Ich weiß es nicht.« Er hatte bei dieser Antwort den Kopf gesenkt, um uns nicht in die Augen schauen zu müssen. Ich konnte mir vorstellen, daß es ihm peinlich war, uns eine Lüge aufzutischen. Deshalb mußten wir in Vorleistung gehen. »Sie sind tot, nicht wahr? Die sechs Leute leben nicht mehr.«
Der Mönch redete. »Sie haben nicht gehört. Sie haben es nicht wahrhaben wollen. Sie mußten büßen.«
»Und wo sind sie jetzt?«
Der Mönch hob die Schultern.
»Wissen Sie es tatsächlich nicht?«
Er hatte sich mittlerweile wieder erholt und stemmte die Hände auf die Sitzbank. Er wollte aufstehen und gehen, was mir nicht paßte.
»Eine Frage noch«, sagte ich. Wieder schaute er mich an.
Sein Blick kam mir traurig vor. »Was wollen Sie noch wissen?«
»Sie haben geschrieen?« Er gab es zu.
»Wir hätten gern den Grund gewußt. Sind Sie hier in der Kirche angegriffen worden? Wenn ja, ich sehe keine Angreifer. Wir haben auch niemanden flüchten sehen und…«
»Es war ein Angriff«, gab der Mann zu, »aber nicht so, wie Sie ihn sich vorstellen. Nicht körperlich…«
»Können Sie uns das erklären?«
»Sie haben etwas getan. Ich bin sicher, daß Sie es gewesen sind. Oder waren Sie nicht am Kreuz?«
»Doch, das waren wir.«
»Sehen Sie. Wenn man es nur anschaut, ist es nicht schlimm, aber dabei ist es nicht bei Ihnen geblieben. Ich weiß nicht, ob es Unkenntnis von Ihrer Seite her war, aber Sie haben sich mit ihm beschäftigt, und Sie haben es aus dem Gleichgewicht gebracht. So etwas dürfen Sie auf keinen Fall tun.«
»Was ist das für ein Gleichgewicht?« fragte ich.
»Zwischen Lug und dem Kreuz!«
»Also Gut und Böse.«
»So ähnlich. Der keltische Sonnengott hat seinen Platz in diesem Kreuz. Schon seit langer, langer Zeit. Wir wissen das, und wir akzeptieren es auch, und das sollten Sie ebenfalls tun. Es ist wirklich nicht gut, was Sie gemacht haben. Das Gleichgewicht wurde gestört. Auch ich werde als Teil dieser Insel im Gleichgewicht gehalten, und ich bekam diese Zerstörung mit. Es war ein wilder körperlicher Schmerz, der durch meine Eingeweide raste, und ich bin damit nicht zurechtgekommen. Ich habe gedacht, sterben zu müssen, so schlimm ist es gewesen. Deshalb lassen Sie das Kreuz in Ruhe.«
Allmählich kam ich hinter sein Geheimnis. Auch Vivian sah aus, als hätte sie es begriffen. Ich aber wollte noch etwas wissen. »Spürten Sie das gleiche Gefühl auch bei den Fremden, als diese sich am Kreuz zu schaffen machten?«
»Nein. Da konnte es sich selbst helfen. Ich weiß auch nicht, was geschah.«
»Aber die Männer sind verschwunden?«
Der Mönch schwieg. Sein Schweigen war eine Art Antwort. Ich konnte mir vorstellen, daß er mehr darüber wußte, es aber nicht zugeben wollte.
Wenn ich seine Aussage richtig interpretierte, dann hatte ich durch die Berührung mit meinem Kreuz das Gleichgewicht des Keltenkreuzes zerstört.
Der wilde Schmerz hatte den Mönch in die Knie gezwungen.
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