Das Keltenkreuz
einem Menschen, der im Freien steht.«
»Sie meinen – innen?«
»Genau, John, das meine ich. Schrecklich, aber trotz allem noch gedämpft.«
»Okay, dann schauen wir mal nach.«
Vivian Cameron wollte noch nicht und klammerte sich an meinem linken Arm fest. »Was ist das nur, John? Erst sehe ich die Kreuze innerhalb des Kreises, dann höre ich einen Schrei, weil Sie das Kreuz berührten… Ich komme da nicht mehr mit.«
»Falls es Sie beruhigt, Vivian, mir ergeht es ebenso. Ich stehe noch vor einem Rätsel.«
»Und das alles hat mit den verschwundenen Männern zu tun«, sagte sie leise. »Ich packe es nicht. Ich komme damit nicht zurecht. Das ist mir einfach zu hoch.«
»Wir müssen abwarten, Vivian.«
»Trotzdem gehe ich mit in die Kirche. Ich will einfach nicht draußen bleiben.«
»Keine Sorge.«
Der Weg war nicht weit. Wir passierten das Kreuz an der linken Seite. Es sah völlig normal aus. Nichts an ihm hatte sich verändert. Unter unseren Füßen befanden sich wieder die grauen Steine. Viele von ihnen waren bereits mit Gras überwachsen.
Vor uns lag eine Kirche, aber sie wirkte mehr wie ein Stall, so eckig, so klobig.
Mit Anbauten, die Remisen glichen, und bogenartigen Fenstern über dem Eingang. Sehr hoch und auch sehr schmal waren die Fenster.
Darüber spannte sich ein Flachdach, und über diesem wiederum ragte ein normales Dach empor.
An der linken Seite erstreckte sich ein Seitenflügel. Er machte auf mich den Eindruck eines kleinen Zechenhauses.
Das Portal war verschlossen. Eine breite und dicke Holztür. Eine Klinke, die man mit zwei Händen umfassen mußte. Alles sah sehr alt und auch bedrückend aus.
Zur Zeit der Romanik waren die Kirchen schlichter gebaut worden. Auch im Innern hatten sie nie die Pracht entfaltet, wie es zu Zeiten des Barocks oder der Gotik der Fall gewesen war.
Wir standen vor der Tür. Vivian preßte ihre Hand auf die Brust. »Ich weiß nicht, was mit mir ist. Ich habe mich nie für ängstlich gehalten, aber komisch ist mir schon, das kann ich Ihnen versichern. So etwas ist mir noch nie passiert.«
»Es geht vorbei.«
»Das sagen Sie.« Sie lächelte scheu. »Wollen Sie vorgehen?«
»Ich bitte darum«, erklärte ich locker, um die Lage ein wenig aufzuheitern und ihr die Spannung zu nehmen. Auch ich umfaßte die Klinke mit beiden Händen. Das Metall war kalt, es zeigte aber keine Roststreifen, dann stemmte ich mich auf die Klinke und schob die Tür auf, wobei Geräusche entstanden, die mich an ein Wimmern und Knurren erinnerten. Nicht nur die alten Angeln meldeten sich, die Tür schabte auch über den Boden.
Ich trat zwei Schritte in die alte Kirche hinein. Dabei hielt ich Vivian die Tür auf. Ein Luftzug fegte an mir vorbei und verlor sich in der düsteren Kirche.
Auch Vivian kam. Sie schlich in diesen von grauem Licht erfüllten Raum, dessen hohe Fenster aussahen, als wären sie von innen mit langen Spinnweben bedeckt worden.
In der Kirche brannte kein Licht. Nicht einmal in der Nähe oder auf dem Altar.
Die Stille fiel uns auf. Möglicherweise auch deshalb, weil wir das Heulen des Windes nicht mehr hörten. Es war einfach nur ruhig zwischen den Wänden.
Kein Schmuck, auch kein süßlicher Kitsch, wie man ihn in manch überladenen Kirchen vorfindet. Einige Steinfiguren lockerten das Bild auf. Andenken an die Männer, die hier einmal gewirkt hatten. An der Wand sahen wir die Motive eines Kreuzwegs. Auch hineingemeißelt in die Wand, natürlich grau, wie von Steinpuder überzogen.
Die Bänke bestanden aus dunklem Holz. Sie waren ähnlich schlicht wie der Altar.
Vivian und ich waren einige Schritte gegangen und neben einem Weihwasserbecken stehengeblieben. Kühl war es in unserer Umgebung.
Die Decke wurde an zwei Stellen von mächtigen Säulen abgestützt. Vor dem Altar verzweigte sich der Mittelgang zu zwei Seiten hin. Auch dort hing die Düsternis.
Vivian dachte an den Schrei. Sie sprach darüber. »Haben wir uns geirrt, John? Ist der Schrei nicht hier in der Kirche aufgeklungen?«
Ich wiegte den Kopf. »An einen Irrtum glaube ich nicht.«
»Aber ich sehe niemanden«, flüsterte sie. »Abwarten.«
»Was meinen Sie damit?«
»Wir haben die Kirche noch nicht durchsucht.«
»Rechnen Sie damit, jemanden zu finden? – War das vielleicht ein Todesschrei gewesen?«
Ich hob die Schultern, weil ich nichts bestätigen wollte, aber tief in meinem Innern rechnete ich damit. Vivian allerdings nicht, denn sie konnte sich nicht vorstellen, daß die Kirche als
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