Das Keltenkreuz
spürten.
Das Keltenkreuz war nicht zu übersehen. Es stand da wie ein hoher Wächter, der alles unter seiner Kontrolle hielt, was sich in seiner Nähe bewegte.
»Ich kann es noch immer nicht fassen«, sagte Vivian, »daß sich in diesem Kreuz Gut und Böse vereinen sollen. Das ist eine absolute Neuheit, ein Novum.«
Ich hatte ihr zugehört und die Reisetaschen, die wir an der Tür abgestellt hatten, angehoben. »Machen Sie sich keine Gedanken, Vivian, wir werden das Kreuz noch genauer unter die Lupe nehmen. Darauf können Sie sich verlassen.«
Sie blickte mich aus ihren klaren Augen an. »Und was sehen Sie als Ziel, John?«
»Lugs Vertreibung!«
Vivian Cameron gab mir keine Antwort. Aber ihr skeptischer Blick sagte mir genug…
***
Bis zum Kloster brauchten wir nicht weit zu laufen, sondern an der Kirche vorbeigehen, denn die Gebäude schlossen sich direkt an und waren sicherlich auch durch einen Gang zwischen Kirche und Kloster zu erreichen, aber wir hatten uns für den offiziellen Weg entschieden, einen ebenfalls gepflasterten Weg, wo wir auch zwei aus Eisen bestehende Abfallkörbe sahen, ein Beweis dafür, daß dieses Kloster tatsächlich von zahlreichen Menschen besucht wurde.
Wir erlebten das Glück, allein sein zu können, denn es trat uns niemand in den Weg. Es war nicht die richtige Zeit, und wir waren auch froh darüber. Mauerwerk so grau wie Asche. Kleinere Fenster als in der Kirche. Keine Bemalungen auf dem Glas. Alles wirkte zumindest von außen her sehr schlicht, und ich glaubte auch nicht, in dem Kloster irgendwelchen Prunk zu entdecken. Aber wir waren bereits aufgefallen, denn innerhalb der Tür öffnete sich eine Klappe. Darin zeichnete sich das Gesicht eines Mannes ab, der uns entgegenblickte.
»Moment noch, John«, sagte Vivian leise, als sie bemerkte, daß ich etwas sagen wollte. »Der Abt heißt übrigens Bruder Martin.«
Ich war überrascht. »Sie wissen viel.«
»Nicht genug.«
Der Meinung war ich nicht, aber ich zeigte mich einverstanden, daß Vivian das Reden übernehmen wollte, und deshalb ließ ich sie auch vorgehen. Sie blieb so dicht vor der Tür stehen, daß sie nicht laut zu sprechen brauchte, um verstanden zu werden.
»Sie wünschen, bitte?«
»Wir möchten zu Bruder Martin.«
Der Türsteher schwieg überrascht. »Sie sind angemeldet?« fragte er dann.
»Nein, das nicht.«
»Kommen Sie wegen eines Seminars?«
»Auch das ist nicht der Fall. Wir möchten zu Bruder Martin.«
»Er hat wenig Zeit. Ich meine, Sie müßten sich schon an die Regeln halten. Eine Anmeldung…«
»Pardon, wenn ich Sie unterbreche, Bruder. Sagen Sie dem Abt, daß Vivian Cameron zu ihm möchte. Und sagen Sie ihm auch, daß es wichtig ist.«
Die Frau hatte sehr engagiert gesprochen und den Mönch etwas verunsichert, so daß dieser sich zurückzog, uns aber noch bat, einige Minuten zu warten.
»So«, sagte Vivian nur.
Ich hatte die beiden Reisetaschen abgestellt. »Sie überraschen mich, Vivian.«
»Warum?«
»So unbefleckt scheinen Sie nicht zu sein. Sie haben mit dem Namen Cameron kokettiert. Ich weiß ja, wer Ihr Großonkel ist. Aber hat sein Name auch hier auf der Insel Gewicht?«
»Das hat er.«
Ich schlug gegen meine Stirn. »Natürlich, muß er auch haben. Duncan Cameron wird seine Leute nicht nur einfach losgeschickt haben, um das Kreuz aus der Erde zu holen. Er muß ja jemanden um Erlaubnis bitten, denke ich mir.«
»Da liegen Sie nicht falsch.«
»Wie verstanden sich Ihr Großonkel und der Abt denn?«
»Das werden wir gleich erfahren. Mir hat Duncan darüber nichts gesagt. Aber ich weiß, daß er auch eine große Summe gespendet hat. Nicht, daß er das Kreuz dem Kloster abkaufen wollte, aber er wollte etwas in Bewegung setzen. Es geht ihm einzig und allein um das Kreuz, das einen neuen Platz bekommen soll.«
»Da können wir ja mal abwarten.«
»Werden wir auch, John.«
Der Mönch kehrte zurück.
Er öffnete die Klappe nicht, sondern die Tür und nickte uns zu.
»Dürfen wir?« fragte Vivian.
»Der Bruder Abt erwartet Sie.«
»Danke.«
Wir passierten den Mann, und ich schaute noch in seine Augen, aber sie waren normal. Darin malten sich keine Kreuze ab, was allerdings nichts bedeuten mußte.
Es war kühl in der Eingangshalle. An den Wänden hingen düstere Bilder mit Motiven aus dem Klosterleben. Porträts von Äbten und Klostervorstehern, aber auch Bilder von Menschen, die mit Schwert und Lanze bewaffnet waren.
Der Türsteher bewegte sich auf dem Steinboden sehr
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