Das Kind, Das Nicht Fragte
häufiger begegnen. Wir wollen uns im Grunde nicht trennen, nicht einmal für wenige Stunden. Es zieht uns stark hin zu dem anderen, und wir wollen unsere Unterhaltungen unbedingt fortsetzen. Die Kammerspiele in der Öffentlichkeit sind daher die Vorstufen zu späteren Auftritten, bei denen wir unsere Beziehung nicht mehr geheim halten. Neulich ist es bereits einmal geschehen, dass ich Paula nach dem gemeinsamen Verlassen eines Cafés kurz umarmt habe. Sie zuckte zusammen, und ich nahm den Arm sofort wieder von ihrer Schulter. Auch im Haus des Nobelpreisträgers sind wir uns einmal begegnet, leider waren Besucher da. Paula führte durch die Räume, und ich stellte Fragen wie ein vertrottelter Tourist, der noch nie etwas von den Werken des großen Lyrikers gehört hatte. Später, als die Besucher endlich verschwunden waren, küssten wir uns, schlossen die Türe ab und brachten neues Leben in das Kindheitsbett des Verehrten. Und so ist es meist: Sind wir uns irgendwo in Mandlica begegnet, eilt jeder für sich in die Pension, und wir treffen uns in meinem Zimmer. Das Fenster ist weit geöffnet, man müsste unser Lachen über unsere Spielereien unten auf der Straße hören, aber wir sind längst nicht mehr vorsichtig.
Manchmal ist Paula aber auch morgens beschäftigt, und ich sitze nach dem Frühstück noch eine Weile im Innenhof und unterhalte mich mit Maria. Bereits einen Tag nach meinem Gespräch mit Lucio erzählt sie mir, dass Lucio lange mit ihr darüber gesprochen habe. Ich frage sie, was er genau gesagt habe, und sie gibt es wieder, als wären es Sätze eines Fremden, zu dem sie keine nähere Beziehung unterhält. Zum ersten Mal, sagt sie, habe er ihr gegenüber von seinem erheblichen Drogenkonsum gesprochen und sogar lauter Details aufgefahren: Wo er das Zeug kaufe, wie viel es koste, dass er Schulden mache, um es zu bezahlen. Maria sagt, dass sie das alles nicht nur geahnt, sondern vieles auch gewusst habe. Sie führten, wie ich ja bereits wisse, einen getrennten Haushalt und wirtschafteten längst nicht mehr zusammen. Lucio gehöre das Restaurant, ihr die Pension, früher sei das alles noch eins gewesen.
Ich bin sehr versucht, Maria nach ihren Liebhabern zu fragen, und tue das schließlich auch, indem ich von ihrem Harem spreche. Das Wort gefällt ihr und erleichtert die Verständigung über das heikle Thema. ( Heikel? Wirklich heikel? Gibt es zwischen Maria und mir noch solche Themen? Nein, eigentlich nicht, ich könnte mit ihr über fast alles reden und sie wohl auch mit mir. ) Sie wird zum Glück auch nicht ernst, sondern behandelt das Thema genauso vital und drastisch, wie sie auch sonst die Weltthemen behandelt.
– Eine Zeitlang habe ich meinen Harem für meine eigene Dolci-Produktion gehalten. Ich leiste mir einen süßen Spanier und
nehme zum Kontrast einen herberen Japaner. Ich koste Philippinos, die sind, was den Sex betrifft, abenteuerlich talentiert, oder ich gehe mit einem Engländer ins Bett, dessen Frau gerade durch Mandlica trottet, um sich ein Paar überflüssige neue Schuhe zu kaufen. O mein Gott, manchmal war das alles ein richtiges Abenteuer, und ich habe neugierig darauf gewartet, was ich mit einem Gast oder was ein Gast mit mir alles so anstellen würde. Solche Aktionen laufen immer über denselben Trick: Wenn die Gäste gerade ihr Zimmer beziehen, trete ich mit dem Meldezettel auf und erkundige mich nach ein paar Details. Ich streife durch den Raum, ich gehe auf und ab, ich berühre dieses und jenes, und manchmal funkt es dann schon bereits. Eine flüchtige, nachlässige Berührung – und zack! – die Lippen begegnen sich. (Richtig, so war es auch in meinem Fall. Sie kam mit dem Meldezettel in mein Zimmer, und ich beobachtete, wie sie spielerisch und versonnen über die Kanten der Möbel strich. Schon damals spürte ich die geheime Erotik, die von diesen Gesten ausging. Was ist mit ihr? dachte ich. Und später, als sie mich auf den Mund küsste, hielt ich auch das nicht für einen Zufall. Sie hat etwas mit dir vor, dachte ich.)
– In meinem Fall bist Du nicht sehr erfolgreich gewesen, sage ich.
– In Deinem Fall war alles anders, Du hast mich durcheinandergebracht. Nicht einmal die simple Frage, ob Du verheiratet seist, hast Du beantwortet. Und dann hast Du gleich alle Möbel umgeräumt und von Deiner Ethnologie gesprochen. Ich war richtig perplex, so einen merkwürdigen Gast hatte ich noch nie gehabt. Ich bin hinunter an meinen Computer gelaufen und habe Deine Daten
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