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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Forschungsergebnisse bin ich sehr gespannt. Aber was das große Dolci-Projekt unseres Bürgermeisters angeht, sollten Sie nicht zu viel Zeit investieren. Sie arbeiten in dieser Sache ja wohl mit meinem Sohn Matteo zusammen. Was halten Sie denn von ihm? Ist er ein guter Partner?
    – Ja, das ist er, Signora, wir kommen gut miteinander aus.
    – Das wundert mich nicht, Signor Merz. Matteo ist sehr zurückhaltend, zu einem richtigen Streit ist er gar nicht fähig. Er ist ein Mensch, der alle und jeden versteht, der den Unglücklichen zuredet und seine Arme öffnet für alle, die sich nicht recht verstanden fühlen. Das ist übrigens auch die Ursache dafür, dass viele Frauen ihn mögen. Und die Konsequenz daraus ist leider, dass mein Sohn noch immer unverheiratet ist. Ich habe mir immer einen verheirateten Sohn mit Kindern gewünscht, aber wenn ich davon rede, legt Matteo die Ohren an und verschwindet an seinen Steinway. Der Steinway soll ihm anscheinend seine Kinder gebären, so lege ich seine Fluchtbewegungen aus. Sie dagegen haben es richtig gemacht, denn Sie sind ja auf dem besten Weg zu einer Heirat.
    – Ich, Signora?! Ich bin auf dem Weg zu einer Heirat?!

    Sie lacht wieder, als wäre mir in ihrem Stück gerade eine besonders gute Passage gelungen. Dann steht sie auf, ruft nach ihrer Haushälterin und bittet sie, draußen, vor dem Eingang, nachzuschauen, ob Paula bereits eingetroffen sei. (Paula? Warum sollte Paula bereits eingetroffen sein?)
    – Sprechen Sie gerade von Paula? frage ich die Signora.
    – Ja natürlich, antwortet sie, ich spreche von Ihrer Verlobten.
    – Von meiner Verlobten, Signora? Paula und ich – wir sind nicht miteinander verlobt.
    – Sie sind wirklich noch nicht verlobt? Na dann wird es aber Zeit, höchste Zeit. Oder haben Sie etwas dagegen?

    Habe ich etwas gegen eine Verlobung? Habe ich?! Nun antworte, rasch und entschieden (und denke jetzt nicht
lange nach und rufe keine Argumente dafür oder dagegen ab, Du bist in dieser Sache doch längst sicher)!
    – Nein, Signora, ich habe überhaupt nichts dagegen. Ich habe an eine Verlobung nur noch nicht gedacht, weil eine Verlobung bei uns in Deutschland nicht dieselbe Bedeutung besitzt wie hier in Sizilien. Viele Deutsche, die heiraten wollen, verloben sich nicht, sondern heiraten gleich.
    – Ich weiß, Signor Merz. Ich selbst halte eine Verlobung jedoch für eine schöne, angebrachte Sache. Ein Liebespaar rückt noch enger zusammen, zeigt nach außen, dass es sich für eine spätere Heirat entschieden hat, und lebt im aufregenden Stadium der Erwartung einer baldigen Hochzeit. Ist das etwa nichts? Sollte man diese guten Sitten einfach übergehen, nur weil es bequemer ist? Ich bin gewiss keine Anhängerin altmodischer Bräuche, aber eine Verlobung ist nichts Altmodisches, sondern etwas durch und durch Spirituelles.
    – Ja, Signora, ich verstehe gut, was Sie meinen, und ich teile durchaus Ihre Ansicht. Verlobt zu sein, ist so etwas wie ein spiritueller Freudenzustand zu zweit, ein leichtes und seit langem ersehntes Schweben und Balancieren zwischen dem alten Gestern und dem neuen Morgen.
    – Schreiben Sie auch Poesie?
    – Nein, Signora, bisher ist mir noch kein einziger Vers gelungen, obwohl ich manchmal in Versen denke.
    – Sie denken manchmal in Versen? Ist das nicht gefährlich?
    – Nein, Signora, es öffnet vielmehr das Herz.
    – Es öffnet das Herz? Ist das von Ihnen? Aber nein, das ist nicht von Ihnen, das hat einer unserer alten arabischen Poeten in seinen »Gesängen auf Sizilien« geschrieben. Ich erinnere mich, es war ein Dichter aus dem zwölften Jahrhundert. »Sizilien –/ und das Herz, das sich öffnet« – so heißt es exakt.
    – Eine schöne Stelle, Signora, nicht wahr?
    – Eine sehr schöne Stelle, Signor Merz. Aber nun lassen Sie uns schauen, ob Paula inzwischen eingetroffen ist. Ich hatte sie ebenfalls zu unserem Tee geladen.

    Sie geht voraus, nach draußen, auf die Terrasse, und ich sehe, dass sich Paula bereits auf dieser Terrasse befindet und mit der Haushälterin spricht. Als sie uns erkennt, kommt sie auf uns zu, begrüßt die Signora und gibt mir einen Kuss auf die rechte und linke Wange. Dann setzen wir uns zusammen nach draußen, und die Haushälterin versorgt uns weiter, jetzt mit Tee und anderen, diesmal alkoholischen Getränken sowie mit kleinen Broten, die mit verschiedenen Pasten bestrichen und mit kleinen Gemüsestreifen belegt sind. Wir unterhalten uns, und ich bemerke, dass es Paula viel leichter

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