Das Kind, Das Nicht Fragte
den ersten Tagen eine dritte Buchhandlung, die sich in der Nähe des Doms etwas zurückversetzt zwischen zwei größeren Häusern befindet und auf den ersten Blick so aussieht, als wollte sie eigentlich gar nicht wahrgenommen werden. Sie wirkt auf mich jedenfalls so bescheiden, schlicht und entlegen, dass ich nicht glaube, dort auf Kunden zu treffen. Vor dieser Buchhandlung, die nur ein einziges, kleines Schaufenster hat, stehen aber immerhin einige leichte Stühle aus hellem Korb und einige jener runden Caféhaustische, die einen immer gleich an Frankreich erinnern. (In diesem Fall sind sie dunkelrot, was die Erinnerung an Frankreich noch verstärkt.)
Als ich die Buchhandlung betrete, erkenne ich gleich den bereits etwas älteren Buchhändler, der in einer der hinteren Ecken des Raumes sitzt und in einem Buch liest. Er blickt nur kurz auf, schaut mich an, grüßt knapp und lässt mich dann vollkommen in Ruhe. Er sitzt weiter da, trinkt ab und zu etwas Tee, blättert in seiner Lektüre und schaut die ganze Zeit nicht ein einziges Mal mehr zu mir hin. Auf den Tischen der Buchhandlung aber liegen Bücher, die ich keinen Oberthemen oder Rubriken
zuordnen kann. Sie liegen dort in wilden, leicht verrutschten und sehr einsturzanfälligen Stapeln über-und nebeneinander, und sie reichen von Anthologien früher Dichter des islamischen Sizilien über Beschreibungen sizilianischer Gärten bis zu Fotobänden mit älteren Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Insel, kommentiert von sizilianischen Schriftstellern, von denen mir die meisten zumindest vom Namen her bekannt sind.
Bereits auf den ersten, noch flüchtigen Blick ist also erkennbar, dass es sich um eine durch und durch literarische Buchhandlung handelt. Was sich hier an seltenen und hochinteressanten Lektüren auftut, ist das Werk eines einzigen Menschen, der ein emphatischer und jedes finanzielle Risiko ignorierender Leser sein muss: Ein Leser aus Leidenschaft, ein Leser, wie ich ihn geradezu herbeigesehnt habe!
Ich blättere und lese wild drauflos, innerlich aber jauchze ich gleichsam auf, weil ich sofort ahne, dass dieser Ort mit seinen kleinen Tischen und Stühlen, mit seinen entlegenen Lektüren und einem Angebot nicht von Kaffee, sondern von Tee ( Tee gehört zum Lesen, kein Kaffee!, Kaffee gehört zum Schreiben, kein Tee! – so lautet die zweite Merzsche Grundregel jener Liste von Regeln, die das ethnologische Lesen und Schreiben in meinem Fall, wie soll ich sagen? – nun ja: formen) … – dass dieser Ort also ein erster Wohlfühlpunkt für meine Forschungen werden kann. Bleibt nur noch die entscheidende Frage, ob ich mich in dem Buchhändler, der sich nach wie vor ausschließlich in seine Lektüre vertieft, nicht irre. Ist
er wirklich der kluge, lebenserfahrene und bescheidene Mensch, für den ich ihn halte? Und gibt es bereits jetzt irgendwelche Gründe, ihn sympathisch zu finden?
Dass er auf seinem Stuhl sitzen bleibt und einfach weiterliest, macht bereits ein erstes Sympathiemoment aus. Ich kann nämlich gut darauf verzichten, in einer Buchhandlung sofort angesprochen und etwas gefragt zu werden, ja, ich betrachte es geradezu als eine Auszeichnung, als Kunde allein gelassen zu werden, damit ich mir in Ruhe meine eigenen Wege durch diesen Dschungel bahnen kann. Offensichtlich schätzt dieser Buchhändler den selbständigen, neugierigen und unvoreingenommenen Kunden, der diese Buchhandlung nicht mit einem bestimmten Kaufwunsch, sondern mit purer Neugierde auf Überraschungen aller Art betritt.
Ich drehe eine kleine Runde durch den Raum, blättere hier und da und behalte den Buchhändler dabei im Auge. Er trägt eine dunkle Cordhose mit breiten Cordrippen, die etwas Gediegenes, Verlässliches ausstrahlen, und er trägt einen leichten, dunkelblauen Pullover, der hier und da einige durchscheinende, dünnere Stellen hat. Ruhig und konzentriert sitzt er da, es macht ihm nichts aus, einen solchen Pullover zu tragen, der Pullover tut vielmehr seinen Dienst, und auf mehr kommt es nicht an. Auch das macht ihn mir sympathisch, weiß ich doch aus eigener Erfahrung, dass Menschen, die sich leidenschaftlich mit bestimmten Themen beschäftigen, häufig nicht dieselbe Leidenschaft für lästige Kleiderfragen aufbringen. (Zu einem Gespräch mit dem Dekan
unserer Fakultät bin ich sogar einmal mit Löchern in meinen Strümpfen erschienen und habe dieses Versehen erst beim Verlassen des Dekanatszimmers bemerkt, als der freundliche Dekan mich darauf hinwies, dass sich einige
Weitere Kostenlose Bücher