Das Kind, Das Nicht Fragte
macht, falsch erzählt oder nicht das Richtige erzählt . Man sollte ihm vielmehr geduldig und sehr aufmerksam zuhören, und man sollte versuchen, allmählich eine genauere Vorstellung von dem zu erhalten, was der Befragte eventuell noch alles erzählen könnte .
Das herauszufinden ist ebenfalls außerordentlich schwer. Man kann mit bestimmten Gesprächspartnern Stunden und Tage verbringen und durchaus das Gefühl haben, Interessantes und Verwertbares von ihnen zu erfahren. Hört man einige Tage später dann aber die Aufzeichnungen vom Aufnahmegerät ab, stellt man nicht selten fest, dass man die entscheidenden Fragen gar nicht gestellt, sondern in der gesamten Gesprächszeit nur sehr farbig und munter um die wichtigen Dinge und Sachverhalte herumgeredet hat.
So etwas passiert einem nicht, wenn man einen ersten Gesprächspartner findet, mit dem man die wichtigsten Themen rasch und überschaubar sondiert. Auf ihn kann man sich in der Folge dann meist verlassen. Mit der Zeit wird er einem weitere Gesprächspartner nennen, und er wird eine Hilfe sein, wenn man in eine Sackgasse gerät oder mit seinen Forschungen aus anderen Gründen nicht weiterkommt.
Was nun Mandlica betrifft, ist es ganz ausgeschlossen, Maria nach einem solchen ersten Gesprächspartner zu fragen. So, wie ich sie bereits nach wenigen Tagen
kenne, würde sie mir gleich eine Vielzahl von sicher im ganzen Ort angesehenen Männern empfehlen, mit denen ich mich unten, im Café, zu weitschweifigen Unterhaltungen treffen würde. Ich würde viele Zahlen, viel Geschichtliches und viel Dekoratives zu hören bekommen, doch ich würde am Ende nichts anderes in Händen haben als eine matte Abziehfolie all der Probleme und Themen, die zum Beispiel im Rat der Stadt Woche für Woche besprochen werden.
Solche öffentlichen Themen aber interessieren mich nicht, ich suche vielmehr besonders nach Themen, die auch das Seelische oder Emotionale der Menschen berühren. Vor allem aber interessieren mich die mehr oder minder versteckten Beziehungen der Einheimischen untereinander, wie sie oft über mehrere Generationen hinweg unterhalten werden. Solche Beziehungen sind an der Oberfläche nicht erkennbar, sie spielen sich in den Häusern und Stuben, in den dunklen Zonen der Parks und Uferpromenaden, auf den Feldern und Wiesen, an den entlegenen Stränden, zwischen den Weinbergmauern und damit meist im Verborgenen ab. Gelingt es mir, solche Orte zu entdecken, werde ich allmählich auch den geheimen Plan der wichtigsten emotionalen Zonen der Stadt und damit die verborgene Landkarte der Umgebung erhalten.
Psychische Landvermessung habe ich so etwas einmal genannt, und ich darf mit einigem Stolz behaupten, dass diese Begriffsbildung sich inzwischen in der Ethnologie eingebürgert hat und als sogenannter Merzscher Begriff in den ethnologischen Diskussionsforen weit über den deutschsprachigen Bereich hinaus eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Merzscher Begriff?! Was das meint? Ach ja, ich vergaß bisher, meinen Nachnamen zu erwähnen. Ich heiße Merz, Benjamin Merz, ich bin, wie ich bereits schrieb, der fünfte Sohn jener uralten Merzschen Sippe aus Köln-Nippes, die vor der Geburt dieser fünf Kinder vor dem Aussterben stand und nun – zumindest in Gestalt meiner vier Brüder – wieder dabei ist, sich zu vermehren.
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M EINEN ERSTEN Gesprächspartner, der mir dann das Tor zu den weiteren Gesprächen in Mandlica weit aufstößt, finde ich ganz zufällig. Auf den Seiten meiner Notizhefte habe ich kleine Listen der Geschäfte und Läden des Ortes angelegt und dabei auch die genauen Adressen der beiden Buchhandlungen festgehalten, die ich besuchte. An einer belebten Straßenkreuzung mitten im Ort befindet sich die größte Buchhandlung, die auf ihren weiten Verkaufsflächen alles anbietet, was in diesem Ort zur Grundversorgung mit Lektüren gehört. Nicht weit davon entfernt gibt es noch eine kleinere, die sich ganz auf die Geschichte Mandlicas und die Geschichte seiner touristischen Besonderheiten spezialisiert hat. (So findet man dort Stapel von Büchern, in denen die Geschichte der einheimischen Dolci-Produktion bis in
die feinsten Details ausgebreitet wird. Daneben gibt es Mandlica-Parfum, Mandlica-Schreibwaren, Mandlica-Tässchen und -Tellerchen, ja ich würde mich nicht wundern, irgendwann sogar auf Mandlica-Dessous zu stoßen, wie sie die junge Buchhändlerin vielleicht unter ihren bunten und motivreichen Mandlica-Röcken trägt.)
Übersehen habe ich jedoch in
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