Das Kind, Das Nicht Fragte
es machen. Ich werde alles aufschreiben, meine Fragen und die Antworten. Darf ich jetzt gehen?
– Du hast noch nicht gebeichtet. Du solltest die zehn Gebote durchgehen und Deine Sünden bekennen.
– Darf ich das ein anderes Mal tun? Ich bin so aufgeregt.
– Gut, dann machen wir das ein anderes Mal. Und nun nimmst Du Deinen Stuhl und trägst ihn wieder hinaus, und dann kniest Du Dich in eine Bank und betest drei Vaterunser und drei Gegrüßet seist Du, Maria. Falte jetzt bitte die Hände, ich erteile Dir jetzt den Segen.
Ich faltete die Hände und hörte, wie der Segen gesprochen wurde. Dann trug ich den Stuhl hinaus und betete, wie mir aufgetragen worden war.
Diese Stunde im Beichtstuhl war die Geburtsstunde meiner Frage-und Antwortspiele, die ich in schwarze, linierte Schulhefte eintrug. Heute glaube ich, dass sie zugleich der Beginn meiner Leidenschaft für das ethnologische Fragen und Antworten waren. Beinahe täglich setzte ich mich für eine halbe Stunde irgendwo hin und stellte mir oder anderen Menschen oder der halben Welt Fragen, um sie nach kurzem Nachdenken selbst zu beantworten.
– Warum singen die Vögel?
– Weil sie sich darüber freuen, immer etwas zu fressen zu haben.
– Welches Tier im Zoo magst Du am liebsten?
– Den Marabu. Er bewegt sich nie und denkt mehr nach als jedes andere Tier. Außerdem ist er gut gelaunt, aber er zeigt es niemandem.
– Welchen Sport würdest Du außer dem Langlaufen gerne lernen?
– Das Delphinschwimmen, ich würde sehr gerne so schwimmen können, es ist das schönste Schwimmen, das es gibt, viel
schöner als das dämliche Brustschwimmen und auch schöner als das angeberische Kraulschwimmen.
– Und das Rückenschwimmen?
– Das Rückenschwimmen ist etwas für das Schwimmen im See, und es ist auch eher etwas für ältere Leute.
14
W ÄHREND DES Gottesdienstes schaue ich manchmal hinüber zu den alten Beichtstühlen, die dicht hintereinander in den beiden Seitenschiffen stehen. An den meisten sind kleine Schilder mit den Namen der Priester befestigt, die in dem jeweiligen Beichtstuhl die Beichte abnehmen. Ich überlege, ob ein Gläubiger dieser Stadt immer wieder mit demselben Priester spricht oder ob er abwechselnd, mal bei diesem, mal bei jenem, beichtet. Interessant wäre auch ein genaueres Wissen darüber, ob er sich traut, wirkliche Todsünden zu beichten, oder ob er den Priester mit der Angabe von ein paar lässlichen Sünden zufriedenstellt. Todsünden – das waren in den Kinderjahren richtig harte Sachen wie Ehebruch, Gewalt, Diebstahl oder sogar Totschlag, lässliche Sünden dagegen waren so harmlose Delikte wie Lügen, Freunde ärgern oder Zoten reißen. Im Grunde haben die Priester in diesem Ort Aufgaben, die sonst die Psychoanalytiker wahrnehmen, hoffentlich sind die Priester diesen Aufgaben auch gewachsen. Während der Vorarbeiten zu meinen Forschungen habe ich festgestellt, dass es in
Mandlica lediglich zwei Psychoanalytiker gibt, das ist eindeutig zu wenig, vielleicht sind es aber auch so wenige, weil die Priester diese Rolle wirkungsvoll genug ausfüllen.
Der Gottesdienst dauert mitsamt einer kurzen Predigt, der ich wegen ihrer Harmlosigkeit nicht folgen kann, kaum mehr als eine Dreiviertelstunde. Bei einigen Liedern, die ich von früher her kenne, singe ich leise mit, und auch einige der bekannten Gebete (wie etwa das Vaterunser) spreche ich mit, denn ich kenne sie auch in der italienischen Fassung noch immer auswendig (worauf ich ein wenig stolz bin).
Als ich die Kirche nach dem Segen des Priesters verlasse, geht es mir besser. Es ist richtig gewesen, in eine Kirche zu gehen, ich habe meine Psyche wieder etwas im Griff, vor allem aber haben die Erinnerungen an die unangenehmen Momente im Haus des Nobelpreisträgers schon etwas von ihrer Heftigkeit verloren. Draußen, vor der Kirchentür, bleibe ich ein wenig stehen und schaue in die Abendsonne, deren letzte Strahlen noch auf den weiten Domplatz fallen. Eine ältere Frau kommt auf mich zu, bleibt neben mir stehen und gibt mir die Hand. Sie murmelt einen undeutlichen Gruß, ich verstehe nicht, was sie will, aber ich grüße zurück und bleibe dann allein vor der Kirche stehen, während sie weitergeht.
Genau in diesem Moment klingelt mein Handy, und ein Blick auf das Display belehrt mich, dass sich diesmal mein Bruder Josef, der Apotheker, Sorgen macht.
– Benjamin?! ruft er.
– Ja, antworte ich, ich bin’s, Beniamino, es ist alles in Ordnung.
– Alles in Ordnung,
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