Das Kind, Das Nicht Fragte
derartige Stille erlebt, es war, als trieben der Priester und ich mitsamt dem Beichtstuhl in einer Kapsel im Ozean, die langsam in die Tiefe
abtauchte. Durch das engmaschige Gitter kam noch immer ein schwacher Luftzug, aber er war geräuschlos, wie der Flügelschlag eines Engels. Ich schaute nun doch zu dem Priester hinüber, weil ich nicht verstand, was in diesem Beichtstuhl gerade passierte. Da aber hörte ich eine Stimme, die mir nicht mehr die Stimme des Priesters, sondern die Stimme des Herrn Jesus zu sein schien. Natürlich war es nicht die Stimme des wahren Herrn Jesus, nein, vielmehr war es eine Stimme, die ich in einem Film mit dem Schauspieler Fernandel gehört hatte, der in diesem Film einen Priester mit Namen Don Camillo spielt.
Den Film Don Camillo hatte man uns Kommunionkindern in einem Vereinssaal unserer Pfarrei gezeigt, und er hatte mir sehr gefallen. In ihm war der Priester Don Camillo, wenn er sich sehr über die Menschen aufregte oder sich sonst irgendwie ärgerte, immer wieder in die Kirche geeilt, um dem Herrn Jesus am Kreuz von seinem Ärger zu erzählen. Das Seltsame aber war dann gewesen, dass ihm der Herr Jesus am Kreuz wahrhaftig geantwortet hatte, ja, er hatte ihm mit leiser, ruhiger und sanfter Stimme auf all seine Vorhaltungen und Schimpfereien immer wieder geantwortet.
Als ich diese Stimme des Herrn Jesus am Kreuz zum ersten Mal hörte, war ich wie verzaubert. Noch nie hatte ich einen Erwachsenen so freundlich, verständnisvoll und ruhig sprechen hören. So zu sprechen war wundervoll , denn wenn der Herr Jesus so sprach, erledigte sich der Ärger Don Camillos von selbst. Er stammelte noch
ein paar Widerworte, er grunzte und grummelte vor sich hin, dann aber musste er über seinen Ärger selbst lachen und trottete wieder hinaus aus der Kirche.
Und nun hörte ich genau diese Stimme! Sie war leise, aber sehr deutlich, ich verstand jedes Wort, und das alles jagte mir einen Schauer nach dem andern über den Rücken. Und was sagte die Stimme?
– Du hast dem lieben Gott Fragen gestellt. Und der liebe Gott antwortet Dir.
Ich fürchtete mich einen Moment, aber die Furcht ließ gleich wieder nach, weil die Stimme so beruhigend war.
– Und was antwortet er? fragte ich.
– Du kennst die Antworten längst, sagte die Stimme. Du brauchst sie bloß laut und deutlich zu wiederholen.
– Ich kenne die Antworten? Aber was sind die Antworten?
– Lieber Gott, warum kommst Du uns nicht einmal besuchen? Das war Deine Frage. Und was antwortet der liebe Gott, na, was antwortet er?
– Dass er keine Zeit hat, dass er uns nicht besuchen kann, weil er sonst auch andere Familien besuchen müsste, wenn man ihn darum bittet.
– Richtig. Und was antwortet der liebe Gott auf die Frage, warum Du lieber läufst als Fußball zu spielen?
– Was er antwortet? Moment … – er antwortet, dass ich kein Mannschaftssportler, sondern ein Einzelkämpfer bin, und dass das daher kommt, weil meine Brüder nie mit mir gespielt haben, sondern mich immer allein haben spielen lassen.
– Richtig. Und was antwortet der liebe Gott auf die Frage, warum Deinen Brüdern die Mittagessen Eurer Familie besser schmecken als Dir?
– Moment … – er antwortet, dass die Mittagessen meinen Brüdern besser schmecken, weil Mutter für meine Brüder, nicht aber für mich kocht.
– Richtig. Und was antwortet der liebe Gott auf die Frage, ob er Dir beim Beten gut zuhört und ob Du gut und verständlich betest?
– Na, das ist doch klar, er antwortet, dass er mir sehr genau zuhört, so wie jetzt gerade, als er sich meine Fragen genau angehört hat.
– Dann wären Deine Fragen also beantwortet?
– Ja, meine Fragen sind jetzt beantwortet. Aber was mache ich, wenn ich wieder etwas fragen möchte? Soll ich dann wieder zur Beichte gehen?
– Das kannst Du machen, aber es ist nicht unbedingt nötig. Du weißt ja jetzt, wie es geht: Du stellst dem lieben Gott Deine Fragen, dann wartest Du eine Weile, bis er sich die Antworten überlegt hat, und dann hörst Du zu, was er antwortet und wiederholst es laut. Es ist ganz einfach.
– Ich könnte die Fragen an den lieben Gott auch aufschreiben.
– Oh ja, das ist eine gute Idee.
– Und die Antworten könnte ich dann ebenfalls aufschreiben.
– Ja, aber nur, wenn der liebe Gott Dir auch wirklich geantwortet hat.
– Antwortet er denn manchmal auch nicht?
– Manchmal hat er keine Zeit, sofort zu antworten. Dann musst Du warten, bis Du die Antwort hörst.
– Gut, so werde ich
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