Das Kind, Das Nicht Fragte
mich dann unter das dünne Leinentuch auf mein Bett. Ohne dieses Tuch kann ich nicht schlafen, ich brauche diese leichte Bedeckung wie ein Kind, das sich erst sicher fühlt, wenn es nachts die Haut einer Decke am ganzen Körper spürt. Ich schlafe nackt, das ist bei dieser Hitze sehr angenehm, wie es in dieser Jahreszeit zum Angenehmsten überhaupt gehört, tagsüber auf viel Kleidung verzichten zu können. (Ich werde mich mit dem Herbst und der Zeit der Pullover schwertun …)
Ich schließe die Augen und lausche noch etwas auf die Geräusche ringsum, ich mag es sehr, auf diese Weise langsam einzuschlafen. Das Bellen der Hunde hat längst aufgehört, jetzt ist die Stunde der Grillen, die sich die halbe Nacht wie ein leicht zerstrittenes Orchester abmühen, den einen, großen Unisono-Klang hinzubekommen und dann auch zu halten. Ein Orchester, das über seinen ersten Einsatz nicht hinauskommt, ein Orchester, das immer wieder denselben Akkord anstimmt und ihn im Dunkel verebben lässt. Ich nehme mir vor, diesen Klang in einer der folgenden Nächte aufzunehmen.
Ich finde langsam hinüber zu den ersten Traumbildern: Eine lange Straße im Sonnenlicht, keine Menschen, Rauchwolken in der Ferne … – da höre ich (eigentlich nur mit halbem Ohr, als gehörte dieses Geräusch
doch eher in meinen Traum), dass die Tür meines Zimmers geöffnet wird. Ein leichter Luftzug, ein Geruch von Kräutern und Öl. Ich wache auf und lausche weiter: Irre ich mich? Ich bewege mich nicht, dazu bin ich zu erschrocken, ich halte die Luft an, ich kann nicht glauben, dass ein Dieb in mein Zimmer eingedrungen sein könnte. Nein, das ist Unsinn, nein, ein Dieb ist das nicht!
Da spüre ich, wie das Leinentuch langsam angehoben wird. Von der Seite schlüpft ein nackter Leib darunter und legt sich dicht neben mich. Ich öffne die Augen nicht, ich weiß genau, dass es Paula ist. Sie berührt mich mit beiden Händen leicht, aber es ist eher ein Tasten, ein Suchen, dann auch ein Streicheln, schließlich spüre ich ihre beiden Hände auf meinem Rücken. Sie fahren langsam über die gesamte Rückenpartie, sie hüllen mich ein wie eine zweite Decke.
– Bist Du’s, Paula? flüstere ich, ohne die Augen zu öffnen.
– Ja, sagt sie, ich bin’s.
– Ich habe genau von einem solchen Moment geträumt, sage ich.
– Ich weiß, antwortet sie.
– Du weißt es?
– Ich habe es schon während unserer Unterhaltung bei Lucio gespürt. Ich habe genau gespürt, was in Dir vorging.
– Und was ging in mir vor?
– Es war so schön, das mit anzusehen. Du wolltest mich die ganze Zeit berühren, an den Fingern, an der Schulter, am Haar, aber es hat nur zu ein paar flüchtigen Kontakten gereicht.
– Wirklich? Ich habe versucht, Dich zu berühren?
– Du hast es gar nicht bemerkt, aber doch immer wieder – fast wie im Traum – versucht. Ich habe gedacht: Am Ende küsst er Dich, ja, im Grunde möchte er nichts anderes, als Dich auf der Stelle zu küssen.
– Richtig, genau so war es.
– Passiert Dir das häufig mit Frauen, die Du noch gar nicht kennst?
– Was denkst Du denn? Passiert mir so etwas häufig?
– Ich glaube nicht.
– Und warum passiert es mir eigentlich nie?
– Du bist so vorsichtig und – wie sagt man noch im Deutschen? – zurückhaltend. Einen zurückhaltenderen Menschen kenne ich nicht.
– Aber an diesem Abend war ich das nicht.
– Oh doch, aber Du konntest Deine Gefühle nicht so gut verbergen wie sonst. Je länger wir miteinander gesprochen haben, umso neugieriger und offener für alles, was ich erzählte, wurdest Du.
– Und Du? Wie ging es Dir?
– Ich sage Dir jetzt die Wahrheit, in wenigen Sätzen, dann haben wir es hinter uns, Beniamino. Ich habe mich an diesem Abend auch in Dich verguckt, und Du bist meine erste Liebe seit Lucio, damit Du das auch gleich weißt. Als ich das am Morgen nach unserer Begegnung bei klarem Kopf feststellte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich habe ein paar Sachen zusammengepackt und bin geflohen, wie damals, als die Sache mit Lucio passierte. Ich wollte erst länger darüber nachdenken: Was ich jetzt tun soll, ob ich überhaupt etwas tun soll, mit wem ich es zu tun habe und was geschehen wird, wenn wir uns wieder begegnen. Ich bin auf meiner Vespa durch halb Sizilien gefahren,
habe an verschiedenen Orten übernachtet und ununterbrochen über nichts anderes nachgedacht. Jetzt wird es ernst, habe ich gedacht, jetzt entscheidet sich Dein zukünftiges Leben. Ich werde in ein paar Jahren
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