Das Kind, Das Nicht Fragte
unverständliche, kindliche, manchmal sogar jammernde Sprache, eine Sprache des Bittens und Bettelns, fiebrig, nervös und heftig, als könnte sie die Vereinigung nicht länger erwarten und sehnte sich, dass es gleich, sofort, im nächsten Moment geschieht.
Dieses kindliche, fiebrige und immer heftiger werdende Sprechen ist sehr schön und klangvoll, es ist die Sprache einer großen Verausgabung und eines vollkommenen Loslassens, sie spricht sich fort von allem Bekannten, sie will hinüberschwimmen zu mir, zu diesem fremden Kontinent, der auf sie wartet und nun erobert werden will. Sie küsst und streichelt ihn weiter, es ist, als präparierte sie ihn unaufhörlich für diese Eroberung, sie hinterlässt ihren Duft und ihren Geruch, sie speichelt die nachgiebigen Hautstellen ein, unglaublich schnell und beinahe hastig, ihr Stammeln und Rufen wird immer lauter, sie streut diese Liebesvokabeln in den dunklen Raum und hinaus aus dem weit geöffneten Fenster, dass ich denke: Jetzt wirbelt dieser feurige Wortstrom hinunter, über die Dächer, springt durch die Gassen und brandet ins Meer!
Eine derartige, unbedingte Ekstase habe ich noch nicht erlebt, ich erlebe sie staunend und leicht verlegen, ich weiß nicht, wie damit umgehen, deshalb halte ich eine Weile still, als sei ich ein Kind, das überrascht wird und das Neue beobachtet, das es in seinen Bann zieht und ihm etwas vormacht und es einlädt zum Mittun. Am wenigsten aber habe ich Worte für das alles, siciliano , denke ich, weil ich mir unter siciliano etwas Glühendes, Dunkles und sehr Heftiges vorstelle. Dazu passt ihr tiefbrauner, markanter Leib, der sich immer wieder dehnt vor lauter Begehren, der mich einschnürt und packt und dreht, als wendete er mich momentweise über einem Feuer oder einer glimmenden Glut.
Dann hört das undeutliche, sehnende und kindliche Sprechen mit einem Mal auf und geht in ein Sprechen über, das aus vielen italienischen und deutschen Vokabeln besteht. Dieses Sprechen hat aber keine Ordnung und keine Grammatik, es ist wie ein Rausch, der ein wildes, freies Vokabular anzieht, Bruchstücke von Sätzen nur, Bruchstücke aber, die wie aufbewahrt erscheinen für eine solche Stunde und die jetzt unser Lieben begleiten.
Als ich diese Worte höre und zu verstehen und miteinander zu verbinden versuche, weiß ich, womit sie sich in den letzten Jahren beschäftigt hat, sie ist eine Übersetzerin , denke ich, sie übersetzt aus dem Italienischen und Sizilianischen ins Deutsche, sie übersetzt Lyrik und Prosa, genau damit hat sie sich beschäftigt. ( Vielleicht hat sie auch die Lyrik des Nobelpreisträgers übersetzt, ich hätte darauf kommen können, dass sie etwas mit Literatur zu tun hat, ich hätte mir so etwas denken können, als ich ihr im Kindheitshaus des Nobelpreisträgers begegnete. )
Diese Gedanken erscheinen mir wie die letzten noch fehlenden Teile zu dem Bild, das ich mir bisher von ihr gemacht habe. Ich denke aber nicht länger an all das, ich lasse es hinter mir, denn die Bewegungen, die von ihr ausgehen, erfassen jetzt auch meinen Körper, und es ist, als geriete dieser bestürmte Kontinent endlich auch in Bewegung. Einen Moment krümme ich mich vor Erleichterung zusammen, dann strecke auch ich mich und fasse nach ihren Händen und bekomme sie zu packen, und es ist wie ein heftiges Ringen und Ziehen,
und ich höre, wie begeistert sie darauf antwortet und die nächste Runde einleitet und mich bestürmt und fassungslos macht. ( Ich bin nicht mehr Benjamin Merz, denke ich, ich bin das nicht mehr. Ich erhalte gerade einen zweiten Körper, der sich auf ein zweites Forschen versteht. Was hat dieser neue Körper denn für ein Leben? Woraus besteht er? Wann kam er zur Welt? Wo hat er sich bisher versteckt? Und wie wird er mit dem ersten, alltäglichen Körper umgehen? Wird er ihn verwandeln?)
Der Körper der Lust: Ihre Rückenflügel, die tief abtauchen wie die einer Schwimmerin und dann wieder nach oben schnellen, als reckten sie sich aus dem Wasser und der Sonne entgegen. Die weicheren Partien ihrer Haut in der Umgebung des Nabels, empfindliche Hautfelder, die bei jeder leichten Berührung aufblühen und sich dann wieder zusammenziehen. Ihre Füße, die nach vorn und zurück schwingen, als suchten sie nach einem Widerstand, von dem sie sich abstoßen könnten. Die feine Spur aus Schweißtropfen, die an ihrer Wirbelsäule entlangsickern. Ihre zupackenden Hände, die den fremden Körper erforschen, abtasten, stimulieren. Ihre
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